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Black Box BRD

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GESPLITTERTES DEUTSCHLAND. Dietmar Kesten 5.12.04 11:21

BLACK BOX BRD

GESPLITTERTES DEUTSCHLAND

von DIETMAR KESTEN, GELSENKIRCHEN, 5. DEZEMBER 2004.

Peter-Jürgen BOOCK (ehemals RAF) schrieb in seinem
Roman „Abgang“ (1988):
„Am Endpunkt muss Zeit genug bleiben, die Kostümierung
zu wechseln.“ (1)
Die Kostümierung war das beklemmende Szenario der
‚Roten Armee Fraktion’, die in Deutschland in den siebziger
Jahren mit einer Spirale der Gewalt die gesellschaftlichen
Verhältnisse radikal verändern wollte. Aus Gewalt wurde
Gegengewalt. Beides verselbständigte sich.
Aus einer angedachten Perspektive der RAF wurde
ein Mechanismus, der sich in waghalsige politische Aktionen
entlud, und die die Gegenmacht, den Staat, auf den Plan
rief, der mit ‚Stammheim’ jenen Kerker erzeugte, in dem das
Leben der Gefangenen der RAF zu einer Isolation wurde.
Am Vorabend des ‚Deutschen Herbstes’ 1977 lief die letzte
Phase der Kostümierung an.
Die Kommandounternehmen endeten in einem Blutbad
In Mogadischu werden am 18. Oktober 1977 die Terroristen,
die eine Lufthansa-Boeing entführt hatten, um die
Freilassung der ‚Stammheimer’ zu erreichen, von einem
Spezialkommando, der GSG, getötet, im 7. Stock der
Justizvollzugsanstalt in Stuttgart-Stammheim, in der die
Top-RAF einsaß, kommen BAADER, ENSSLIN und
RASPE ums Leben, MÖLLER überlebt schwerverletzt.
Am 19. Oktober wird der entführte Hans Martin SCHLEYER
in einem Kofferraum eines PKW in Mühlhausen tot
aufgefunden.
Die „Kostümierung“, wie BOOCK schrieb, hatte ein
scheinbares Ende gefunden. Die zweite Generation
der RAF versuchte u. a. mit Christian KLAR und
Brigitte MONHAUPT den bewaffneten Kampf in der BRD
fortzusetzen. Am 2. April 1985 werden sie in Stammheim
zu lebenslänglicher Haft wegen Beteiligung an
RAF-Aktionen verurteilt.
Der letzten und damit dritten RAF-Generation gehörten
u. a. Wolfgang GRAMS und Brigitte HOGEFELD an.
Am 27. 6. 1993 kam es auf dem Bahnhof von Bad Kleinen
bei einem Festnahmeversuch zu einer Schießerei, bei
der GRAMS und ein GSG-9 Beamter unter bis heute
ungeklärten Umständen getötet werden.
HOGEFELD wird verhaftet.

Der Film „Black Box BRD“ ist eine Dokumentation, die von
Wolfgang GRAMS und Alfred HERRHAUSEN (einstiger
Vorstandsvorsitzender der Deutschen Bank), der 1989
durch ein ungeklärtes Attentat, hinter der vermutlich
die RAF stand, getötet wurde, handelt.
Andres VEIEL („Die Überlebenden“, 1996) zeichnet mit
diesen beiden Extremen ein irritierendes Psychogramm
dieser beiden Menschen.
GRAMS, der für Gewalt stand, HERRHAUSEN, der für
das Kapital stand, werden in Zeitfenstern gegenübergestellt.
Es kommen Angehörige und politische Weggefährten
zu Wort.
Die Bilder sprechen für sich. Da dieser Dokumentarfilm
darauf verzichtet, zu verurteilen, gehört er zu jenen seltenen
Dokumenten, die über die RAF wenn man von „Deutschland im
Herbst“(2) einmal absieht, gemacht wurden.

Der Film soll zum nachdenken animieren. Er handelt von
Irrtümern und Verblendungen, von revolutionären Aktionen und
freiem Unternehmertum, vom Schock des Augenblicks, von
Kollisionen, vom Endgültigen, vom Töten und Getötetwerden,
von der Verschiebung der Fronten, vom Leben. Und dass
irgendwo die Fäden wieder zusammenlaufen.
Wenn man so will, dann ist „Black Box BRD“ ein kurzer,
jedoch auch langer Film über das Leben im eigentlichen
Sinne.
Terrorismus und Kapital, diese Gegensätze sind auf den Kopf
gestellt. Beides ist der Kreuzweg des modernen Staates,
Sackgasse, Licht und Finsternis.
Wer ihn betrifft, der sollte sich darüber Klarheit verschaffen,
dass Ursachen und Mechanismen, Methoden und
Zielsetzungen, Strafe und Verbrechen, Mordlust und Qual,
Folterung und politische Karriere für Terrorismus und Kapital
in einem fort wie durch einen Filter hindurchlaufen.
Je mehr man sich auf dieser Stufe den beiden Kontrahenten
nähert, um so schärfer wird auch der Kontrast.
Hier erstarren die Bilder und werden zu einem Gemälde,
das erst dann in Bewegung kommt, wenn die zentralen
Themen in einer Retrospektive behandelt werden.

Die jüngere Geschichte Deutschlands ist ohne den politischen
Protest, der in seiner radikalsten Art im Terrorismus endete,
wohl nicht zu verstehen. (3)
Zwei Welten, geschieden wie Tag und Traum treffen hier
aufeinander. Es gibt keine Zeit in diesem Film, nur Zeitfenster,
die geöffnet und geschlossen werden.
Alles kehrt hier wieder. Alles erleben wir noch einmal: der
Augenblick des Schreckens, das Ringen mit dem Tod. Die
Alpträume ziehen nicht vorbei. Sie bleiben. Es gibt hier keine
Vision des Friedens. Die, die das Licht anmachen, knipsen
es nicht wieder aus.
Im Traum geht oft eine Welt unter. Schlimmer ist es, wenn
diese untergehende Welt in der Realität bleibt.
Deshalb gibt es hier auch keine Versöhnung. Was sollte mit
wem versöhnt werden: der Staat mit den Terroristen, oder
die Terroristen mit dem Staat? Für beide gilt: die Orte und
Landschaften können ausgelöscht werden, aber nicht Raum
und Zeit. Die apokalyptischen Bilder bleiben für beide Seiten
hier bestehen.

In schlichten Einfassungen und mit erbaulichen Worten erzählt,
wird dieser Film zu einem Requiem.
Bilder in der Enge, Bilder mit Weitwinkel, Bilder in der
unerträglichen Enge. Die Gewalt bleibt hier seltsam abstrakt,
obwohl sie allgegenwärtig ist.
GRAMS und HERRHAUSEN, beide lebten in einer Welt
für sich. Das Leben beider wurde genommen.
Beide starben unerwartet. Kampagnen, Provokationen, Terror,
Skandale- man beweint die Opfer.
Trauer und Verzweifelung spricht. Mörder können nicht
lebendig gemacht werden, die Opfer auch nicht. Man kann
ihnen Realität und Identität nicht wiedergeben.
Was wäre passiert wenn...?
„Black Box BRD“ ist der Anfang eines neuen Erzählens über
den Gegensatz zwischen Terror und Kapital.
Offenbar scheint sich die einstige Prämisse von Karl MARX
gewandelt zu haben. Der Antagonismus, der einst noch
im Verhältnis von „Kapital und Arbeit“ zugespitzt erschien,
ist unter den barbarisierten Verhältnissen zum Gegensatz
von Terror und Ökonomie geworden. Der Terror der
Ökonomie bringt weltweit den Terrorismus als eine
Spielart hervor, und der Terrorismus ruft den Staat in seinen
Extremen an.
Wir sind nicht geschützt. Wir durchlaufen mit Viren einen
Schock nach dem anderen.
Beide Seiten verlieren sich im Ungeheuerlichen. Selbst die
kleinste Lücke ist auf dieser Welt zum Betätigungsfeld für
Mordbuben jeder Couleur geworden.
Aber ohne Erklärungen bleibt selbst diese vage.

Fazit:

Filme mit einem solchen Hintergrund machen eine
Besprechung zur Qual. Da in den Bildern alle Qualen
zusammenlaufen, ist es besser, sie von der Last der
Geschichte zu befreien.
Dass die Welt nicht in Ordnung ist, erlebt jede/r täglich.
Eine Besserung ist nicht in Sicht. Wer die Insel verlässt,
wird nie die Orte der Kindheit wiedersehen.
Hier könnte ein Stück neuer Geschichte beginnen, eine
Geschichte, die die Familien versöhnt und das leere
Haus mit Leben erfüllt. In die Welt des Schweigens
will niemand zurück, aber auch nicht in die ewigen
Konflikte.

Anmerkungen des Verfassers:

(1) Peter-Jürgen Boock war Mitglied der RAF.
1980 verließ er die Gruppe und distanzierte sich von
ihren Zielsetzungen.
1981 wurde er in Hamburg verhaftet und 1984 vom
Oberlandesgericht Stuttgart in erster Instanz zu dreimal
lebenslänglich und weiteren 15 Jahren Haft verurteilt.
Eine Teilrevision reduzierte das Urteil am 18. 11. 1985
auf einmal lebenslänglich.
Am 20. 4. 1998 gab die RAF ihre Auflösung bekannt.

(2) „Deutschland im Herbst“ ist der Versuch, die Situation
und Stimmung nach der Entführung und der Ermordung
von Hans-Martin Schleyer und dem Tod der inhaftierten
RAF-Häftlinge, Gudrun Ensslin, Jan Carl Raspe
und Andreas Baader zu beschreiben.
Ein Film über die politische Situation im Herbst 1977, mit
Bildern die niemals im Fernsehen liefen und von denen
die Zeitungen nicht Bericht erstatteten.
So entstand eine Kollage von Beiträgen disparater Qualität
und Methodik - eine Einheit der Gegensätze, die auch den
radikalen Herbst 1977 kennzeichnete.
Der Film enthält Beiträge von neun Regisseuren. Beteiligt
waren u. a. Bernhard Sinkel, Rainer Werner Fassbinder,
Alexander Kluge. Der Film kam 1978 in die Kinos.

(3) Alle Daten zur RAF: vgl. MAO-Seite des Archivs für
APO und soziale Bewegung der Freien Universität Berlin,
wo der Versuch unternommen wird, eine Chronologie
des politischen Protest in der BRD seit den Anfängen
zu erstellen.
 http://www.fu-berlin.de/APO-archiv/Online/MAO/MAO.html

Dietmar Kesten 5.12.04 11:21