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Die wiedergefundene Zeit

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IN DER ZEIT. Dietmar Kesten 18.12.04 13:02

DIE WIEDERGEFUNDENE ZEIT

ALLES MENSCHLICHE GESCHEHEN IST IN DEN

ABLAUF DER ZEIT GESTELLT

von DIETMAR KESTEN, GELSENKIRCHEN, 18. DEZEMBER 2004.

Marcel PROUST, welch ein Name!
Der französische Romancier (10. 07. 1871 bis 18. 11. 1922),
der sich mit seiner Romantrilogie „Auf der Suche nach der
verlorenen Zeit“ ein Denkmal gesetzt hatte, hat Literaturgeschichte
geschrieben.
Er steht in einer Reihe mit den großen Schriftstellern
des 19. und 20. Jahrhunderts: James JOYCE, Franz KAFKA,
Samuel BECKETT, Gustav FLAUBERT, Thomas MANN,
Klaus MANN, BERTOLD BRECHT und vielen anderen.
Walter BENJAMIN sagt 1929 über PROUST:
„Mit Recht hat man gesagt, dass alle großen Werke der
Literatur eine Gattung gründen oder sie auflösen, mit einem
Worte, Sonderfälle sind.
Unter ihnen ist aber dieser einer von den unfasslichsten.
vom Aufbau angefangen, welcher Dichtung, Memoirenwerk,
Kommentar in einem dargestellt, bis zu der Syntax uferloser
Sätze... ist alles außerhalb der Norm.
Dieser große Einzelfall der Dichtung stellt gleichzeitig ihre
größte Leistung in den letzten Jahrhunderten dar.“

Die fast 4. 200 Seiten seines epochalen Werkes, das
zwischen 1913 und 1927 entstand und im wesentlichen
posthum veröffentlicht wurde, ist in der europäischen
Romankunst ein einziger elegische Wohllaut der Dichtung.
Im verzweifelten Wettlauf mit der Zeit, besser: mit der
zerrinnenden kalendarischen Zeit, gelingt es PROUST,
die verlorene Vergangenheit kraft der Erinnerung
zurückzurufen.
Die „Wiedergefundene Zeit“ ist sich dieser paradoxen
Situation bewusst. Objektivität und Wahrheit, verbunden
mit der Wieder-Erinnerung des Subjekts, sind daher
hier die unmittelbaren Voraussetzungen für das Verstehen
des Werkes.

Bei dem Roman handelt es sich exegetisch betrachtet,
um eine Autobiographie. PROUST erzählt aus seiner
Sicht, als er beginnt „den Roman zu schreiben“.
Der große Bogen der Erzählung besteht aus seinen
Erlebnissen seit seiner frühesten Kindheit, die ihn eine
schier unüberwindliche Kraft gekostet haben scheint, sich
dieser Erlebnisse zu erinnern, und sie in seinem Roman
einzufassen.
Zu Anfang gibt der Ego-Erzähler das zu Protokoll, was
ihn auch weiterhin begleiten wird:
„Lange Zeit (über) bin ich früh schlafen gegangen.
Manchmal fielen mir die Augen, wenn kaum die Kerze
ausgelöscht war, so schnell zu, dass ich keine Zeit
hatte mehr zu denken.“ (Bd. I: „In Swanns Welt. Im Schatten
junger Mädchenblüte“, Frankfurt./M. 2000).
Das willentliche oder bewusste Erinnern, die Kraft der
unwillkürlichen Erinnerung durch die zufällige
Sinneswahrnehmung, verknüpfte PROUST bereits in seinen
Eingangssätzen mit der Dichte und Geschlossenheit
der komplexen dichterischen Welt und der haargenauen
Beobachtung der Pariser Gesellschaft im 19. und im
Übergang zum 20. Jahrhundert.
Der Hintergrund des Romans demonstriert so die
fortschreitende Vermischung der französischen Klassen
unter dem Einfluss der Zeit.

Die Erforschung der Vergangenheit als Erinnerung, der
Gewohnheit als dominierende Gestalt, das Vergessen
als verhärtete Verhaltensweise, die fortspinnenden
unendlichen Monologe als Zukunftsdeutung- das macht
die verschlungene und verflochtene Wechselbeziehungen
dieser Recherche aus, die im zweiten und dritten
Band (Bd. II: „Die Welt der Guermantes. Sodom und
Gomorra“, Bd. III: „die Gefangene. Die entflohene und
Wiedergefundene Zeit“), dem Höhepunkt entgegenstrebt.
Kennzeichnend für alle Eindrücke, die bei PROUST
zusammenfließen, sind die Zeilen aus dem ersten
Band:
„Vergebens versuchen wir sie (die Vergangenheit, d. Vf.)
wieder heraufzubeschwören, unser Geist bemüht sich
umsonst. Sie verbirgt sich außerhalb seines
Machtbereichs und unerkennbar für ihn in irgendeinem
stofflichen Gegenstand (oder der Empfindung, die dieser
Gegenstand in uns weckt), in welchem, ahnen wir nicht.
Ob wir diesen Gegenstand aber vor unserem Tode
begegnen oder nie auf ihn stoßen, hängt einzig vom
Zufall ab... In der Sekunde nun, als diese(r) mit dem
Kuchengeschmack gemischte Schluck Tee meinen
Gaumen berührte, zuckte ich zusammen und war wie
gebannt durch etwas Ungewöhnliches, das sich in
mir vollzog... Ich setze die Tasse nieder und wende mich
meinem Geist zu. Er muss die Wahrheit finden. Aber
wie?... Er steht vor einem Etwas, das noch nicht ist, und
das doch nur er in seiner Wirklichkeit erfassen und damit
ins eigene Licht rücken kann... Ich verlange von meinem
Geist das Bemühen, die fliehende Empfindung noch
einmal wieder heraufzubeschwören... Und dann mit einem
Male war die Erinnerung da... Sobald ich den Geschmack
jener Madeleine wiedererkannt hatte, die meine Tante mir
in Lindenblütentee eingetaucht, zu verabfolgen pflegte
(obgleich ich immer noch nicht wusste, und auch erst
späterhin würde ergründen können, weshalb die Erinnerung
mich so glücklich machte), trat das graue Haus mit seiner
Straßenfront, an der ihr Zimmer sich befand, wie ein Stück
Theaterdekoration zu dem kleinen Pavillon an der Gartenseite
hinzu, der für meine Eltern nach hintenheraus angebaut
worden war (also zu jenem verstümmelten Teilbild, das
ich bislang allein vor mir gesehen hatte) und mit dem Haus
die Stadt, der Platz, auf den man sich vor dem Mittagessen
schickte, die Straßen, die ich von morgens bis abends und
bei jeder Witterung durchmaß, die Wege, die wir gingen,
wenn schönes Wetter war.“ (Bd. I, S. 63 - 67).

PROUST versucht hier aus dem sedimentierten
Unterbewusstsein seine (die) versunkene Welt wiederzufinden
und wiederzuentdecken. Es ist der Prozess des
Heraufholens der Vergangenheit in die Gegenwart,
was schlicht Vergegenwärtigung bedeutet. Das kann als
dialektischer Prozess gedeutet werden: es ist die Stufe der
Erinnerung, wobei Erinnerung durch die Sinneseindrücke
hervorgerufen wird. Die Stufe des Längstvergessenen wird
durch die Gefühlserinnerung wieder aktiviert, bis
schließlich die blitzartige (bildhafte) Erinnerung durch den
Geschmack der ‚Madeleine’ mit Bewusstseinsinhalten
aufgefüllt wird, was schließlich die Expression ausmacht.
Die erinnerten Zustände in allen Bezügen bewältigt
PROUST in Worten, die bei ihm neu übersetzt und stets
anders geschaffen werden.

Über all dem steht der Begriff der Zeit, die Zeit in Paris
ist der Oberbegriff. Sie ist die Hülle für die Entwicklung
der geschichtlichen Welt, die stetig fortschreitet.
Sie durchlebt die Metamorphosen, die sich auf einer
Bühne abspielen. Die Vergangenheit hat die Fähigkeit,
im Gedächtnis wieder aufzuleben. Diese Gedächtniskunst
verschließt sich unserem mathematisch-exaktem
Zeitbegriff.
Die rückerinnerte Vergangenheit strömt in die Gegenwart
ein. PROUST hatte das einmal als „innere Zeit“
bezeichnet. In dieser zeichnet er neue Bilder, die durch
„unsere seelische Ganzheit einen beinahe fiktiven
Wert“ bekommen. Die Geistigkeit ist in diesem Gefäß
(die Zeit, d. Vf.) eingeschlossen, die in „unserem Inneren
unsere vergangenen Freuden und unsere Schmerzen
unaufhörlich“ mit uns verbunden sind.

Die Geschichte von Swann zeigt die Vielschichtigkeit
seiner Persönlichkeit in dieser Zeit.
Seine Bewusstseinslagen, die sich aus vorzeitlichen
Bildern speisen, fließen in stetige Umfüllprozesse ein.
PROUST entwickelt mit bewundernswerter Fähigkeit
die Grenzbereiche und Empfindungen menschlicher
Nuancen und Gefühle in einer Zeit, die scheinbar vor der
Zeit durch die überlebende Vergangenheit entstanden sind.
Nur so ist zu erklären, dass der Autor Mehrdeutigkeiten
und Unaufrichtigkeiten ebenso beschreiben kann,
wie das Triebleben, die Liebe, die er in allen Einzelheiten
beschreibt. Vom ersten, zarten Erwachen bis zur Hölle
der Eifersucht dieser getriebenen Leidenschaft.

Der Film „Die wiedergefundene Zeit“ von
Raul RUIZ („Fluchtpunkte“, 1984,
„Erinnerung an die Erscheinungen“, 1986,
„Drei Leben und ein Tod“, 1996, „Genealogie eines
Verbrechens“, 1996, „Starke Seelen“, 2001) stellt Marcel
in den Mittelpunkt, seine eigenen Erlebnisse und
Erinnerungen, die Beschwörung des Lebens, die großen
Gefühle der Liebe und des Leidens, die Begegnungen mit
Odette Swann, deren Tochter Gilberte und seiner großen
Liebe Albertine.
In dem letzten Band seiner Romantrilogie, der dem Film
zugrunde liegt, sieht er bei einem Empfang im Hause der
Herzogin von Guermantes nach langen Jahren frühere
Bekannte wieder.
Der gealterte d’Agencourt macht für ihn nun plötzlich die
Zeit sichtbar. Er ist für ihn gleichzeitig „die Offenbarung
der Zeit“.
Die Gäste erscheinen dem Erzähler wie eine
Maskerade von Puppen. In Meditationen findet er
sich von Erschütterungen umgeben wieder.
Er findet die Zeit wieder, die sich zwar von einem
Ziffernblatt ablesen lässt, die aber, sobald wir uns
dem Tod, dem allgemeinen Gesetz des Lebens,
nähern, die „Dimensionen dieser eigentlichen Zeit
zum Verschwinden“ bringt, in der „das Leben sich
realisiert“.

Fazit:

Wir müssen einen „Platz“ in „der Zeit“ finden. Die
Kraft der Erinnerung entreißt der Vergangenheit die
verlorene Zeit. So entsteht das Paradoxon, dass
Verlorenes und Gefundenes am Ende identisch sein
können. All das ist auch ein Kunstwerk der Zeit.
Auf der Suche danach bringt sie uns selbst hervor.
Eine tolle Leistung der Darsteller, die sich getraut haben,
dem großen PROUST die Ehre zu erweisen, allen voran
Marcello Mazzarella, Cathérine Deneuve, Emanuelle Béart
John Malkovich, Vincent Pérez, Mathilde Seigner,
Pacal Greggory und Chiara Mastroianni.

Dietmar Kesten 18.12.04 13:02