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Aufrecht Gehen: Rudi Dutschke - Spuren [WA]

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EIN BARBARISCHES, SCHÖNES LEBEN. Dietmar Kesten 12.12.04 15:28

AUFRECHT GEHEN: RUDI DUTSCHKE - SPUREN.

WIR HATTEN EIN BARBARISCHES, SCHÖNES LEBEN.

von DIETMAR KESTEN, GELSENKIRCHEN, 12. DEZEMBER 2004.

„Wir hatten ein barbarisches, schönes Leben“, schrieb
Gretchen DUTSCHKE in Ihrer Biografie über Ihren verstorbenen
Mann.
Am Ende töten die Kugeln des Attentäters dann doch.
Am 10. 4. 1968 wurde Rudi DUTSCHKE, führender
SDS-Ideologe, auf offener Straße von Josef BACHMANN
angeschossen und schwer verletzt.
Zu Ostern 1968 kam es deswegen zu schweren
Auseinandersetzungen in vielen westdeutschen Städten zwischen
der Polizei und der rebellierenden Jugend.
Seitens der außerparlamentarischen Opposition wurde die
Hetze der Springer-Zeitungen (allen voran, der „Bild“-Zeitung)
für das Attentat verantwortlich gemacht.
Rudi DUTSCHKE verkörperte wie kein anderer die
Außerparlamentarische Opposition (APO) der sechziger Jahre,
und er wurde zu einer herausragenden Persönlichkeit.
Der Film „Aufrecht Gehen: Rudi Dutschke - Spuren“, versucht,
sich dem Menschen DUTSCHKE zu nähern.
Helga REIDEMEISTER („Drehort Berlin“, 1987,.
„Im Glanze dieses Glücks“, 1990, „Frauen in Schwarz“, 1997,
„Lichter aus dem Hintergrund“, 1998), die nur wenigen
bekannt sein dürfte, hat es sich zur Aufgabe gemacht,
DUTSCHKE und sein Programm, wenn man überhaupt
von (s-)einem solchen reden kann, zu hinterfragen, die
gesellschaftlichen Widersprüche zu beleuchten und
herauszuarbeiten, die reibenden Konflikte zu verdeutlichen,
und die ‚Neue Linke’ in den sechziger Jahren als Ausbruch
aus einer erstarrten Weltordnung zu verstehen.

Über die 68er gibt es Tonnen von Material.
Fast jeder Forscher, der sich mit dieser Bewegung
beschäftigt hat, musste zwangsläufig auf sie eingehen.
Dabei ging es nicht nur darum, die Bedeutung der
Aktionen Revue passieren zu lassen, sondern auch
darum, den Stellenwert dieser Rebellion für die
Entwicklung der jüngeren deutschen Geschichte zu
begreifen, oder wenigstens zu versuchen, deren
wesentlichsten Theorien plausibel zu machen.
Die BRD im Jahre 1968 war eine verkrustete, kleinbürgerliche
Gesellschaft.
Nie wieder ist eine gesellschaftliche Ordnung derart
in Frage gestellt worden.
Die Stichworte lauteten: Rebellion, Emanzipation, die
Loslösung von überflüssigen Herrschaftsverhältnissen,
nachhaltige politische und gesellschaftliche Veränderungen.
Keine Institution blieb von der APO verschont.
An allen Universitäten gab es den SDS, der auch die Frage
des Aufbruchs stellte. In sehr vielen westdeutschen
Städten bildeten sich Lehrlings- und Schülerkomitees,
die nach dem Mordanschlag auf DUTSCHKE begannen,
sich zu organisieren und politische Alternativen zu
diskutieren.
1968 war Anti-Springer-Kampagne, Vietnam, Sit-ins,
Go-ins, freie Liebe, antiautoritäre Erziehung, Basisgruppen
an den Universitäten, Notstandsgesetzgebung, der
Prager Frühling, der Mordanschlag auf Martin Luther KING,
Dritte Welt, der Pariser Mai, COHN-BENDIT, GUEVARA
und Bolivien, nationale Befreiungskämpfe und HO-CHI-MINH,
Faschismus und Kapitalismus, Nazi-Terror, KIESINGER
und LÜBKE.

Und immer wieder fiel der Name Rudi DUTSCHKE,
der Organisator der Bewegung, Stratege und Theoretiker,
gefragter Diskussionsredner, Vordenker und Akteur.
Auch wenn die Ziele der APO nicht erreicht werden
konnten, so bleibt diese Zeit als eine der bewegendsten
in Erinnerung.
Das Jahr 1968 markierte historisch eine Zäsur. Die
Vielzahl der Protestereignisse in Westdeutschland und
Westberlin, entstehende neue Aktionsformen, die die
Wiederauferstehung der Weltrevolution hervorbringen
sollten, vereinigten in sich Kommunikation und Radikalisierung.
Doch das Jahr 1968 begann eigentlich mit dem Jahr 1967.
Am 2. Juni 1967 wurde der Student Benno OHNESORG
In Berlin (West) von dem Polizisten KURRAS während der
Proteste gegen den Schah-Besuch erschossen.
1968 war so 1967. Und der geschichtliche Einschnitt von
1968 liegt deshalb im Jahr 1967.
International betrachtet, fällt vielleicht auch die Bedeutung der
Protestbewegung ins Jahr 1964/65, als der amerikanische
SDS (Students For A Democratic Society) nach den ersten
Vietnam-Demonstrationen zu einer radikalen Studentengruppe
mit über 10. 000 Aktivisten heranwuchs.
Er selbst wurde von den dramatischen internationalen
Entwicklungen getragen, die schnell auf den deutschen
Campus rüberschwappen sollten.

1968 hatte viele mit Selbstverständnis und Bewusstwerdung
zu tun. Womöglich war diese Zeit auch eine der gesellschaftlichen
Irritationen.
Die Ideen der 68er waren provokativ. Sie zielten auf eine
Umwälzung aller Bereiche der Gesellschaft, auch auf eine
ökonomische Neuorientierung ab.
Autorität, faschistische Vergangenheit, Leistung, Gewalt,
Sexualität, soziale Werte: alles wurde in Frage gestellt und
neue Fragen aufgeworfen.
Als gesellschaftsverändernd galt die chinesische
Kulturrevolution, die unter MAO die Jugend der Welt dazu
aufrief, „die Revolution zu machen“.
Die APO war mit Sicherheit das Pandon zur Bildung der
Großen Koalition von 1966.
Im Zentrum der Kritik, auch der von DUTSCHKE, stand
das Bildungssystem, die Massenmedien, die
Notstands-Gesetzgebung, das parlamentarische System
insgesamt.
Als Gegenmodell wurde ein Rätesystem im Sinne einer
Produzentenherrschaft entwickelt. Daraus wurde auch die
Theorie abgeleitet, dass es Möglichkeiten gebe, Prinzipien
einer direkten Demokratie (Volksherrschaft) zu
praktizieren.
In seinem berühmten Interview mit Günther GAUS
erläuterte DUTSCHKE damals diese Perspektive
(mit Günter GAUS, Herbst 1967).

Die Krise der parlamentarischen Demokratie hatte sich
1967/68 dramatisch zu verschärfen begonnen.
Es galt, Alternativen zur kapitalistischen Marktwirtschaft
zu entwickeln.
Die Arbeiterklasse als bewegendes Subjekt wurde
wiederentdeckt.
Insbesondere galt es, sie in den Protest gegen die
NS-Gesetze und Große Koalition einzubeziehen. Doch
dem deutschen Parteienstaat gelang es schnell,
diese Proteste für sich zu vereinnahmen, und die
Verhältnisse sozial und ökonomisch zu stabilisieren.
Die Proteste der Jugend- und Studentenbewegung war
für die Lohnabhängigen keine Alternative.
Die Bewegung konnte somit nicht gesellschaftlich
übergreifend wirken, und die Signale, die sie aussandte,
verliefen im Sande.
1968 hatte aber, wie Wolfgang KRAUSHAAR
schrieb, „aus der Welt ein globales Dorf gemacht“
(Wolfgang KRAUSHAAR: „1968. Das Jahr, das alles
verändert hat“, München 1998, S. 319).

1968 kann auch als Ende des Aufbruchs begriffen
werden.
Die Welle von Straßenschlachten nach dem Attentat auf
DUTSCHKE, als die Studenten vergeblich versuchten,
die Auslieferungen der SPRINGER-Zeitungen zu
verhindern, riefen die Präsenz der Staatsorgane hervor,
deren sie nichts mehr entgegensetzen konnten.
Die Anti-Notstandsbewegung scheiterte im Mai 1968.
Es kam kein Bündnis zwischen der APO, dem DGB,
der Arbeiterklasse und anderen zustande.
Das Scheitern der Hochschulreform vertiefte auch die
Kluft an den Universitäten. Institutsbesetzungen,
Vorlesungsstreiks und andere Aktionen waren nun für
lange Zeit gang und gebe.
Schließlich kann das Jahr 1968 auch als ein Jahr der
Niederlage begriffen werden.
KRAUSHAAR schrieb dazu, dass das Jahr gleichermaßen
„auch international ein Synonym für Aufbruch und
Niederlage zugleich gewesen“ sein dürfte.
Der revolutionäre Anspruch, die gesellschaftlichen
Strukturen radikal verändern zu wollen, scheiterte am
eigenen Anspruch.
Dennoch steht 1968 auch für viele positive Dinge:
-Demokratisierung vieler gesellschaftlicher Bereiche
-Bruch mit NS-Kontinuitäten, auch personell
betrachtet (KIESINGER, LÜBKE)
-Bildung, Aufklärung, Bewusstwerdung
-Sexuelle Selbstbestimmung
-Emanzipation der Frauen und Infragestellung
geschlechtsspezifischer Rollenmuster.
Hieran hatte Rudi DUTSCHKE und andere einen
wesentlichen Anteil.

1968 brachte neben der subversiven Seite
(Kommune I, Kommune II etc.) auch jene Theoretiker
hervor, denen es über die Sprache gelang, dieser
Bewegung eine Ideologie aufzudrücken.
Allen voran war es Theoretiker der ‚Frankfurter
Schule’, die den „Langen Marsch durch die Institutionen“
(Rudi DUTSCHKE) durch zahlreiche Schriften, Aufsätze
und Artikel unterstützten. ADORNO, BLOCH und
MARCUSE entwickelten u. a. die Theorie des
„Eindimensionalen Menschen“ (MARCUSE). Die
„repressive Gesellschaft“ (ADORNO) sei eine „bürgerliche
Familienhölle“ (ders.). Nun sei es an der Zeit, „sich selbst zu
befreien“. (MARCUSE)
Die Verbindung von Aufklärung und Selbstbestimmung
war zwar auch eine Utopie, aber der Geist der Aufklärer
hatte die Köpfe erreicht. Das war, wenn man so will,
die Quintessenz aus diesem Jahr.
Rudi DUTSCHKE, der wie kein zweiter dieser Bewegung
seinen Stempel aufdrückte, starb Heiligabend 1979
an den Spätfolgen des Attentats im dänischen Exil.

Anmerkungen:

Auswahlbibliografie:

Gretchen Dutschke: „Wir hatte ein barbarisches,
schönes Leben. Rudi Dutschke“, Köln 1996.
Dieselbe: „Rudi Dutschke: Mein langer Marsch.
Reden, Schriften, Tagebücher“, Hamburg 1981.
Dieselbe: „Rudi Dutschke. Die Revolte.
Wurzeln und Spuren eines Aufbruchs“, Hamburg 1983.
Freimut Duve u. a. (Hrsg.): „Aufbrüche. Die
Chronik der Republik 1961-1986, Hamburg 1986.
Gerd Koenen: „Das rote Jahrzehnt. Unsere kleine
deutsche Kulturrevolution 1967-1977, Köln 2001.
Wolfgang Kraushaar: „1968. Das Jahr, das alles
verändert hat“, München 1998.
Karl A. Otto: „Vom Ostermarsch zur AP“,
Frankfurt/M., 1977.
Jürgen Schröder: „Ideologischer Kampf vs.
Regionale Hegemonie“, Berlin 1990.
Carsten SEIBOLD: „Die 68er“, München 1988.

Online-Publikationen in einer Auswahl:

 http://www.dhm.de/lemo/html/biografien/DutschkeRudi/
 http://www.fu-berlin.de/APO-archiv/
 http://www.fu-berlin.de/APO-archiv/Online/MAO/MAO.html

Dietmar Kesten 12.12.04 15:28