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Liebe mich, wenn du dich traust

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VERWECHSELUNGEN Dietmar Kesten 28.8.04 10:35

LIEBE MICH, WENN DU DICH TRAUST

VERWECHSELUNGEN

von DIETMAR KESTEN, GELSENKIRCHEN, 28. AUGUST 2004.

„Männer und Frauen passen nicht zueinander“ meinte LORIOT.
Aber vermutlich gibt es nichts besseres.
Ein Mann und eine Frau sind die Hauptdarsteller in
„Liebe mich, wenn dich traust“ (Regie: Yann SAMUELL).
Sie hatten sich in der Grundschule kennen gelernt, sich gegen
die Erwachsenenwelt gestellt und mit Streichen autoritäre
Strukturen durchbrochen.
Als Erwachsene setzten sie ihre Spiele fort und mit dem
Fordernden, jedoch auch aberwitzigen ‚Hop oder Top’ werden sie
selbst zu Opfern ihrer eigenen Angriffe.
Trotz engster Vertrautheit und Liebe zueinander reiben sie sich,
setzen sich (tiefen) Verletzungen aus.

Ein Film über die Zerstörungskraft einer fesselnden, pervertierenden
und abgrundtiefen Liebe, bei dem man buchstäblich
seine eigenen Urgründe ausleuchtet; denn „Liebe mich, wenn du
dich traust“, ist nicht nur eine eindrucksvolle Studie, sondern er
zeigt erbarmungslos die Konsequenzen auf, die sich
aus jener Unerfülltheit ergeben können.
Julien lernt Sophie als Achtklässler kennen. Seine Mutter, die schwer
erkrankt ist, schenkt ihm zum Trost ein Spielzeugkarussell, das er
innigst liebt.
Die Grausamkeit, die ihn umgibt, setzt sich auch im Alltag weiter
fort. Juliens Klassenkameradin, Sophie, die mit Nachnamen
Kowalski heißt, muss sich dem Spott und den Angriffen
der Gleichaltrigen erwehren. Da sie das nicht immer alleine schafft,
kommt ihr Julien zu Hilfe. Er schenkt ihr als Zeichen seiner
Verbundenheit das Spielzeugkarussell.
Fortan sind beide unzertrennlich.
Als er es wiederhaben möchte, erklärt ihm Sophie die
Spielregeln, die nun für alle Zeit Gültigkeit haben:
„Geschenkt ist geschenkt, wiederholen will verdient sein.“
Die Wette gilt.
Gemeinsamkeit macht stark. Sie verschwören sich gegen die
Autoritäten, manchmal antiautoritär, anarchistisch, sogar
hedonistisch.
Die tradierten Verhältnisse scheinen ihnen egal, Schule,
Respekt, Disziplin. Für sie sind das nur wertlose
Hülsen. Im Sublimieren zeigt sich ihre wahre Größe.
Sie perfektionieren ihr Spiel, auch wenn der Film keine
Gelegenheit auslässt, darauf zu verweisen, dass es sich hier
nur um eine Verweigerung der Realität handelt, oder besser
um den Rohzustand des Lebens.

Das unterscheidet ihn vom keinesfalls schlechteren
Film „Before Sunrise“ (Regie: Richard LINKLATER, 2004), der
die unausgesprochene Liebe allerdings anders problematisierte;
denn hier war sie ja als Ganzheit bereits vorhanden.
Und die Wahrheit und Schönheit brauchte man nicht erst
zu entdecken, sondern nur noch zu erwecken.
Hier geht es darum, dass die Liebe als Vision wiedergegeben
wird.
Sie sich immer wieder zu vergegenwärtigen, macht die Kunst
aus.
Dass hier ein theatralischer Film, was durchaus zuzugeben ist,
zu überwältigen scheint, liegt daran, dass die Suggestivkraft
der Protagonisten beeindruckt.
Es ist die Wahrheit, die die Mutter der Erzählkunst im Kino
ist, und die von einem phantasievollen Entdecker erst gefunden
werden muss.

Was ist 1 Monat, 1 Jahr, 10 Jahre? Ein endloser Flug durch
Zeit und Raum.
Julien (Guillaume CANET) und Sophie (Marion COTILLARD)
fordern sich gegenseitig immer wieder heraus. Sie spielen
miteinander. Doch für Spiele ist es längst zu spät. Man kann nicht
aufhören.
Es ist die Sucht, aus dem Rohzustand und der unstillbaren
Neugierde auf die Landstraße der Liebenden zurückzukehren.
Die Opfer sind nicht mehr Gleichaltrige oder Autoritäten, sondern
sie sind zufällige Begegnungen wie die Studentin
Aurelie oder der Sportlehrer Igor.
Und längst sind sie es selbst, die mit sich spielen. Es zeigt sich,
dass dieses Spiel jeden fiktiven Handlungsrahmen verlassen hat
und die Dimensionen der Liebenden im Alltagsleben
konstituiert.
Beide lernen was es heißt, die Liebe wie sein eigenes Haus
kennen zulernen, auch wenn niemand über die eigenen Grenzen
seines Dorfes hinauskommt.
Daher wird zwangsläufig die kommunikative Grundlage durch
das spielerische Moment beständig ad absurdum geführt.
„Ich liebe Dich“ erscheint als Metapher, obwohl sie beständig
durch die realen Erscheinungen neu reproduziert werden.
Im gewissen Sinne wird uns hier ein Spiegel vor die
Augen gehalten: die Reflexionen dieser Ereignisse lassen uns
versteinern, so als träfen wir sie im wirklichen Leben an.

Der Charakter von Spiegelbildern ist immer unterschiedlich.
Und so ist die Inszenierung des ‚Spiels’, das den Verdacht
in sich trägt, die Sehnsüchte zu zerstören, bevor sie jemanden
erreichen, möglicherweise ein Selbstzweck.
Hinter den Schleiern von Panik und Phantasie, des
Verletzseins liegt der Selbstschutz. Und nicht unironisch wird
auf die Möglichkeit verwiesen, dass in der Konfrontation
auch immer ein Stück Hoffnung liegt.
Wenn sich die Vertrautheit in ein Stück Liebe (hier ohne
die üblichen sexuellen Eskapaden) verwandeln kann, dann
kann sie trotz Ränke und Intrige in der Freundschaft,
Annäherung und Vertrautheit ein Leben lang bestehen.

In der besten Szene des Films übergibt Julien in einem
Restaurant Sophie zwei Trauringe und fragt sie, ob
sie diese für seine Hochzeit aufbewahren möchte.
Sophie geht davon aus, dass sie gemeint ist und ist
todunglücklich, als Julien ihr seine zukünftige Frau vorstellt.
Unter „La vie en rose“ durchzieht einen der Schmerz, der sich
wie ein Trauerkloß auf die Seele legt. Anfang und Ende
einer Entwicklung!
„Am Anfang war das Wort, hier stock’ ich schon, wer hilft
mir weiter fort.“
FAUST ist zwar keine Parallele. Doch auch hier geht es um
Erfüllung im menschlichen Leben. Für den „Anfang“ steht
die Gestaltung der Liebe: eine Zeitspanne, eine
‚Auszeit’ von 10 Jahren. Heirat, Einkommen, Auskommen,
regelmäßiger Sex, Konsumgüter, Kinder, Familien, ein fester
Job, schrecklich nette Freunde und Bekannte.
Und doch gibt es die Unerfülltheit zum Ende.
„... und schreib getrost: im Anfang war die Tat!“
FAUST, der das zeitliche Nacheinander ganzer Generationen
versinnbildlichte, hielt ebenfalls das ‚Spiel’ zusammen; denn
die „Tat“ setzte er an den Endpunkt seiner Geschichte.
Groteske Wirkungen lassen sich durch einen Zeitausfall
hier bestens beschreiben.
Anfang- und Endpunkt einer Entwicklung sind keine starren
Begrifflichkeiten.
In ihnen spiegelt sich das Leben.
Wie im FAUST, so zeigt der Film die Komplexität der Widersprüche
auf, die Bewegungen aller (anderen) Nebenwidersprüche,
die vom Hauptwiderspruch abgeleitet erscheinen und von den
gegensätzlichen Seiten wieder aufgelöst werden.

Einen Zustand des Gleichgewichts gibt es nicht. Weder
am Anfang, noch am Ende.
Alles ist in steter Bewegung, „alles fließt“ (HERAKLIT),
den Albtraum inbegriffen.
Das ‚Spiel’ ist grausam. Es animiert und fordert, es zerstört,
betrügt und verletzt, es schmerzt und missbraucht.
Was ist besser: lieben und hassen oder hassen und lieben?
Es gibt genügend Spielraum, sich selbst von dieser
Vieldeutigkeit zu überzeugen, oder überzeugen zu lassen.
„Liebe mich, wenn du dich traust“, kann auch hervorrufen,
dass während sich ein tragischer Konflikt in der einen Ecke
des Zimmers abspielt, der Held in der anderen Ecke eine
glückliche Liebesbeziehung aufbauen kann.
Wieso nicht, wenn doch nur Teile eines Bilds zu sehen
waren?
Wenn in der Schlussszene die Liebe sprichwörtlich in Beton
gegossen wir, dann löst sie sich in ihre Elemente auf, um
gleichwohl an einem anderen Ort wieder neu aufzuleben.

Fazit: In guten Filmen fühlen wir den gemeinsamen
Spielraum und eine Spielzeit auch dann, wenn das totale
Bild der Szene uns kein einziges Mal gezeigt wird.

Dietmar Kesten 28.8.04 10:35