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So weit die Füße tragen

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DIE HEIMKEHR. Dietmar Kesten 4.1.05 17:07

SO WEIT DIE FÜßE TRAGEN

DIE HEIMKEHR

von DIETMAR KESTEN, GELSENKIRCHEN, 4. JANUAR 2005.

3 Jahre nachdem die letzten Kriegsgefangenen des
2. Weltkrieges heimgekehrt waren, produzierte der
Westdeutsche Rundfunk 1958/59 unter der Regie von
Fritz UMGELTER das Epos über die Flucht eines deutschen
Soldaten aus Sibirien.
Hein WEISS als Clemens Forell hetzte damals in einem
Sechsteiler dem Westen entgegen. Die Serie, die über
Jahrzehnte an der Spitze der Publikumsgunst rangierte, ging
auf einen authentischen Fall zurück.
Das Heimkehrerdrama ist nun auch im Kino zu sehen.
Unter der Regie von Hardy MARTINS („Casadeur - Die Jagd
nach dem Bernsteinzimmer“, 1998) wird nun diese
Fernsehfassung zusammengeschnitten.
In der Rolle des Clemens Forell ist Bernhard BETTERMANN
zu sehen, der mit martialischem Engagement die Strapazen
der Flucht auf sich nimmt, drei Jahre unterwegs ist- auf
Eisenbahnwaggons oder mit dem Boot, meistens aber zu
Fuß. Dabei legte er über 14. 000 Kilometer zurück, um am Ende,
zu Weihnachten 1952 seine Familie, die er acht Jahre zuvor
verlassen musste, wiederzusehen.

Ca. 11 Millionen Deutsche Soldaten gerieten im Zweiten
Weltkrieg in Gefangenschaft, etwa 10 Millionen von ihnen
kehrten heim. Alte, junge oder Todkranke oft schon in den
Monaten nach der Kapitulation, die letzten erst 11 Jahre
später.
Sie durchlebten eine Zeit der härtesten Entbehrungen, Jahre
der Zwangsarbeit. Etwa 1 Million der Kriegsgefangenen starben
oder verreckten unter den grausamsten Bedingungen.
Viele Schicksale sind bis heute nicht aufgeklärt.
„So weit die Füße tragen“ ist jenes Einzelschicksal, wovon
Mütter, Väter und Großeltern unter Tränen erzählt haben,
weil sie Flucht und Rettung oft hautnah miterlebten, und weil
sie sich vermutlich auch aus diesem Grunde mit
Clemens Forell identifizieren konnten.
Fast jede/r der Nachkriegsgeneration wurde mit diesen
Erzählungen konfrontiert.
Josef Martin BAUER vollendete 1954 seinen Roman
„So weit die Füße tragen“, auf den auch die erste Fernsehfassung
zurückging. Er ist bisher in fünfzehn Übersetzungen erschienen.

Die Geschichte um Forells Flucht dürfte fast jede/r kennen. Im
Fernsehen wurde sie seinerzeit schwermütig-melancholisch
geschildert. Und der innere Antrieb, der Motor für seinen
schier unüberwindliche Lebensmut ist die Sehnsucht nach seiner
Heimat, nach Frau und Kinder.
Clemens Forell war jener Mensch, der mit unbändigen Willen
ausgestattet war, der mit Kraft und Ausdauer jedes Martyrium
auf sich nahm und jenseits jeder Vorstellungskraft das Unmögliche
doch möglich machte.
Seine Flucht, so liest man heute noch, kann als Paradebeispiel
für die Sprengkraft jeder physischen und psychischen Grenzen
menschlicher Existenz betrachtet werden.
Was treibt einen Regisseur dazu, diese Fernsehserie neu zu
verfilmen?
Die Antwort darauf fällt schwer. Geht man vom allgemeinen
Marktsegment aus, dann passt dieser Film ins gigantische
mediale Verdauungssystem hinein. Er lässt die Kasse klingeln.
Und wohl auch zu diesem Zweck dürfte die Produktion recht
gute Einspielergebnisse vorzuweisen haben.
Jedes Bild, das sich auch hier wiederfindet, ist tausendmal
abgeschmeckt, hundertmal getestet und den weltweit
operierenden Agenturen angeboten worden sein, bevor
die endgültige Kinofassung feststand.
Die Frage ist nun, wie man sich dem Film nähern
sollte, wenn nicht auf der beschriebene Ebene?
Ist es die Abenteuerstory, aus der man heraus dieses Epos
betrachten müsste, eine nachzuholende Kriegsbewältigung
mit Schauwerten, oder ist es der Versuch, den moralisierenden
Besserwisser mit dem erhobenen Zeigefinger herauszukehren?
Fast ist man geneigt, sich für die Abenteuerstory zu entscheiden.

Bei Erscheinen des Buches kämpfte seinerzeit der
damalige Bundeskanzler ADENAUER um die letzten
Kriegsgefangenen. Die Gefangenen waren noch nicht zurückgekehrt,
aber der Kanzler setzte Hoffnungen in die Regierung der
UdSSR. Und nicht zuletzt ging es auch um seine Außenpolitik und
um seine zukünftige Wiederwahl.
Der aktuelle Bezug des Buches lag damit auf der Hand, und die
spätere Fernsehserie knüpfte eben auch unterschwellig an diese
Entwicklung an.
Als die Sowjetunion am 7. Juni 1955 der Bundesregierung
über die Pariser Botschaft mitteilte, dass sie ohne
Vorbedingungen diplomatische Beziehungen zu Bonn aufnehmen
wolle, vermochte dies der Bundeskanzler nicht abzulehnen; denn
die Möglichkeit bot sich, den stattlichen Rest der
deutschen Kriegsgefangenen aus der UdSSR herauszuholen.
Am 8. September 1955 traf ADENAUER in Moskau ein, und als
er am 14. September wieder abreiste, waren die
Kriegsgefangenen tatsächlich ‚befreit’. Doch um welchen
Preis?
Diplomatische Beziehungen zwischen beiden Ländern wurden
hergestellt und der erste Schritt zur Normalisierung war getan.
Aber nur dem Schein nach; denn Anfang Dezember 1955
erläuterte Außenminister v. BRENTANO eine nach dem
Staatssekretär HALLSTEIN benannte Doktrin der zufolge
die BRD am Alleinvertretungsanspruch festhielt. Allen Staaten,
die diplomatische Beziehungen zur DDR unterhielten oder
darauf aus waren, sie aufzunehmen, wurde mit dem Abbruch
der diplomatischen Beziehungen durch die BRD gedroht.
Die Kriegsgefangenen waren so Vorwand. Gleichzeitig aber
auch ein Provisorium im Spielball der Mächte.

Nun ist von diesem Status quo im Film nichts zu bemerken.
Der ‚Deutsche’, der noch in der Fernsehserie Fritz-Willhelm
hieß, mausert sich wie Harrison FORD in dem Reißer
„Auf der Flucht“ (Regie: Andrew DAVIS, 1993) zu einem
ständigen Stehaufmännchen.
Der Film zwingt der Figur des Clemens Forell jene alten
Vorstellungen vom Schicksal wieder auf, die schon der Roman
enthielt.
Und man sollte nicht vergessen, dass dort der Grundgedanke
die Wiederbelebung des aufmüpfigen Kriegsgefangenen
war. Für die Nachkriegszeit war das ein Fanal.
Weil die Verdrängung vorherrschte, tragische Gefühle
und das Unterbewusste vereinnahmt wurden, konnten selbst
Marionetten damit beginnen, Texte aufzusagen. Somit gab
es auf diesem Filmsektor keine Tabus mehr.
Dramaturgisch effektvoll inszeniert klärte uns Heinz WEISS
darüber auf, dass eine unschuldige Fernsehserie wie ein
Aufklärungsfilm wirken kann, wenn man den Weg des
geringsten Widerstandes, der Irrtümer, und der Verblendung
geht.
Doch Aufklärungsfilme klärten nicht über die Geschlechterrolle
im Kapitalismus auf. Man erfährt nichts übers Patriarchat,
nichts übers Matriarchat, nichts über Emanzipation und nichts
über den Zwiespalt der entsteht, wenn man den
Bedürfnissen nachgeht.
Ähnlich gibt sich „So weit die Füße tragen“.
Forell auf dem Weg zum Zug (das erste Bild). Forell schleicht
in der Heimat um die Kirche (das letzte Bild).
Dazwischen liegt der Filmriss. Man erfährt nichts über den
Krieg, nichts über den Faschismus, nichts über den Holocaust,
nichts über die Wehrmacht, nichts über die Rolle Forells im
Krieg, und nichts zu seiner eigenen Haltung dazu.
Das ist alles merkwürdig.

Und so spinnt der Film diese Merkwürdigkeiten bis zum
Ende. Für die einen mag er daher ein unschuldiger Film sein,
für die anderen ein erbärmlicher, weil er nur die moralisierende
Botschaft und das Pathos raffiniert weitergibt.
Vermutlich geht es auch nur darum. Denn die Geschichte bleibt
wie in der Fernsehserie zäh und träumerisch.
Die tausendfachen Demütigungen anderer Kriegsgefangener
interessieren nicht, es geht nur um den einen, der die Flucht
wagt. Gemessen an dem Leid der anderen, ist dann auch diese
Neuverfilmung ein Schlag ins Kontor.
So nebenbei sind Episoden aufgenommen worden, die den
Hang zur Abenteuerstory nur untestreichen. Forell erlegt
eine Robbe und verhindert mit deren Blut das Erfrieren seiner
Zehen.
Die Figur Kamenev (Anatoly KOTENYOV) unterstreicht diese
Annahme. Dieser kommt zum Showdown auf die Grenzbrücke
und lässt Forell ziehen.
Hier werden alle Register der Spannung gezogen: wer
so fliehen kann wie Forell, der bekommt im Leben auch eine
Chance.
Die schwachen Momente dieses gesamten Reigens werden
durch BETTERMANN zurückgenommen.
Der Held ist traurig, verbissen, undurchdringlich. Er ist halt
überall.
BETTERMANN überragt die hinkende Story und die
kurzsichtige Betroffenheit seines Regisseurs, für den die
Flucht eine abstrakte Heimatfilmerzählung sein könnte.
Seine Leinwandpräsenz ist schon beachtenswert.
Die Verwandlung und die Wiederbelebung gelingt durch
ihn ziemlich eindrucksvoll.

Fazit: Niemandem kann man davon abraten, sich den
Film anzusehen.
Im Gegenteil: man muss ihn gesehen haben, damit der
ganze verschwenderische Reichtum des
Monumentalkinos sichtbar wird. Der Regisseur hat
es mit der europäischen Konkurrenz aufgenommen.
Schade nur, dass die Hatz des Clemens Forell wie
ein Magnetismus wirkt, mit dem nur die Elegie eines
deutschen Landserschicksals festgehalten wird.

Dietmar Kesten 4.1.05 17:07