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100 Schritte

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Arte, oh schöne Arte. Ein Film, den Seven ID 1.11.05 17:16
Arte, oh schöne Arte. Ein Film, den Hansi 4.11.05 21:59

(7/10)
100 SCHRITTE

VERRATEN UND VERKAUFT

von DIETMAR KESTEN, GELSENKIRCHEN, 27. JANUAR 2004.

Es sind nur 100 Schritte, die zwischen dem Elternhaus von
Peppino Impastato (Luigi Lo CASINO) und der Villa seines Onkels,
dem Oberhaupt der lokalen Mafia eines kleinen Ortes bei Palermo
liegen.
Eigentlich hätte dieser Peppino eine wichtige Position in der
Verbrecherorganisation Mafia bekleiden sollen, doch er entscheidet
sich gegen die Mauer des Schweigens.
In Printmedien, als Straßentheater-Darsteller und über einen
Piratensender spricht der Widerständler aus, was andere nicht zu
denken vermögen.
Marco Tullio GIORDANA („Jahreszeiten der Liebe“, 1991)
rekonstruiert eine nicht alltägliche Geschichte über das Leben und
Sterben des durchaus mutigen, gleichsam zielstrebigen, aber auch
egozentrischen Mafia-Gegners Peppino IMPASTATO, der im Mai1978
ermordet wurde und in Italien als Ikone des (politischen) Widerstands gilt.

Was beim Politfilm, wenn denn „100 Schritte“ als ein solcher gelten
sollte, wegfällt, ist das Vergnügen.
Das garantiert einen ernsten, besonnenen, schlichten und überlegenen
Ton; denn der Politfilm, wie er in den siebziger Jahren in Europa
blühte, auch in Italien, ist ein seriöses Genre.
Allerdings muss hinzugefügt werden, dass nun auch dieses Genre
überladen schien. Und oftmals versperrte gerade er einen echten
Zugang zum eigentlichen filmischen Diskurs, dessen Fundament
Ungerechtigkeit, dessen Stütze Emotion, dessen Medium
Schmerz heißt. Ein um seine spielerische Funktion verkürzter Diskurs,
der, so politisch er sein will, öfter ins langweilige klebrige Pathos
abdriftete.

Die Wirklichkeit als wichtigster Bürge der Vergangenheit diente dem
Politfilm geradezu zwanghaft als Bezugspunkt, manchmal auch als
Alibi, wenn etwa an die Filme, die im Anschluss an den französischen
Mai 1968 gedreht wurden, gedacht wir. Erinnert werden soll an GODARD
und seinem Streifen „Alles in Butter“ (1972), Marin KARMITZ und
„Coup pour Coup“ (1971), oder an COSTA-GAVRAS „Z“ (1969)
und „Der unsichtbare Aufstand“ (1973).
Und so verfehlte er nun oft auch nicht seine mystifizierende Wirkung
und die geleckte Oberfläche kommerzieller Produktionen. In diesem
Licht betrachtet, klammerte er sich an einer Realität, die gleichsam zum
Anker wurde.
Er konzentrierte sich auf zwei wesentliche Themen: die soziologischen
Missstände, meistens in der Arbeitswelt, den Streiks als krisenhafte
Zuspitzung der Beziehung Ware-Arbeitskraft.
Mit dieser außerordentlichen Dynamik im Film wurden als erste die
argentinischen Filmemacher Fernando SOLANAS und Octavio GETINO
mit „Die Stunde der Hochöfen“ (1968) bekannt.

In Italien kam mit „Apollon - eine besetzte Fabrik“ (Regie:
Ugo GREGORETTI, 1969) eine einflussreiche Produktion in die
Kinos, in dem erstmalig ein Konflikt für ähnliche Filme Pate stand,
etwa die Filme von Herbert J. BIBERMAN „Das Salz der Erde“ (1953)
oder „Sterben für Madrid“ von Frederic ROSSIF (1963).
Verhehlt werden sollte nicht, dass diese Filme unter sehr heroischen
Bedingungen gedreht wurden, die den Politfilm später in eine
schwere Identitätskrise hineinführten.
Zahlreiche Fernsehstationen begannen, sich für ihn zu interessieren,
und so verwunderte es nicht, dass selbst Filme wie „Streik“ (1924)
von Sergej EISENSTEIN oder die DEFA-DDR-Filme über
Ernst THÄLMANN („Ernst Thälmann-Sohn seiner Klasse“,
„Ernst Thälmann-Führer seiner Klasse“, Regie: Kurt MAETZIG, 1954/55)
und der Buchenwald-Film „Nackt unter Wölfen“ (Buch: Bruno APITZ)
von Frank BEYER (1963) im Fernsehen zu sehen waren.

Der Politfilm verkümmerte wegen seiner ungeheuren Nachfrage
in linken Kreisen zu engstirnigen und dogmatischen Werken, die
mit erhobenem Zeigefinger auf seine brüchige Arroganz verwiesen,
und die Aussagen, die mit Gewissheit vorgetragenen wurden,
konnten sich in nur in einem unbelehrbaren Voluntarismus
niederschlagen.
Die Übermacht des Fernsehens band den Politfilm zwischen
Werbung und Komödie ein. Die Fronten verschoben sich hin
zum platten Gewerkschaftlertum.
Daher musste er auch den Zeichen der Zeit Tribut zollen.
Alle Themen, die es im gesellschaftlichen Wandel zu besprechen
galt, war für ihn ein weiteres Terrain: Frauen, Körper, Kinder,
alternative Erziehung, Familie usw. wurden zu Dauerbrennern
(vgl. z. B. Ken LOACH “Tage der Hoffnung” (1975) und „Land and
Freedom“ (1994).
Die lockere Diskussion, die die blasse Eintönigkeit des alten
Politfilms verdrängte, war nun Standard, ein undogmatischer
Diskurs, der sich durch nichts mehr beeindrucken ließ, ersetzte
gänzlich die Politstreifen. Man wandte sich primär dem Subjekt
zu, dem gesamten Themenkreis von Kunst und Ästhetik usf.
Die Überschätzung des Politfilms war Faktum. Die Agitation und
Propaganda, der eigentliche Aufhänger, fiel gänzlich weg.
Und so wurden sie zu Spielfilmen mit nachdenklichem Hintergrund.

Heute gibt es ihn eigentlich nicht mehr. Vielleicht zaghafte
Ansätze. In Deutschland waren selbst Filme wie:
„Die bleierne Zeit“ (Regie: Margarethe von TROTTA, 1981),
„Die Stille nach dem Schuss“ (Regie: Volker SCHLÖNDORF, 2000),
„Die innere Sicherheit“ (Regie: Christian PETZOLD, 2000),
„Starback-Holger Meins“ (Regie: Gerd CONRADT, 2001),
„Black Box BRD“ (Regie: Andres VEIEL, 2001),
„Das Todesspiel“ (Regie: Heinrich BRELOER, 1997/2001),
„Baader“ (Regie: Christoper ROTH, 2002), oder „September“
(Regie: Max FÄRBERBÖCK, 2003) keine politischen Filme, eher Dokumentarschnipsel, teilweise schlecht recherchiert, mit fragwürdigen
Aussagen, und nur auf Quote ausgerichtet- wie man es am
„Todesspiel“ (deutscher Herbst 1977), oder am Versuch, die Biografie
von Holger MEINS nachzuzeichnen, ersehen kann.

„100 Schritte“ ist nun ein Versuch, einen politisch engagierten Film
mit Spielfilmcharakter vorzulegen. Ein Mensch redet sich durch seinen
festen Glauben um Kopf und Kragen. Für einen Anti-Mafia-Film wäre
„100 Schritte“ kein Gewinn, für die Zuschauer nicht, und für den
Film nicht; denn es ist die Schlichtheit, die zu beeindrucken weiß,
der sensible Filter, persönliche Gefühle, Eleganz und die Einsamkeit
eines Menschen.
Das Fortschreiten der Geschichte erfasst manchmal Charaktere, die
dadurch bestechen, dass ihre schmerzlichen Bilder sich in den
Geschichten von zerbrochenen Träumen niederschlagen und dann
im grauenvollen Erwachen enden.

Peppino stellt diese schmerzhaften Korrekturen in seinem Leben fest.
Als er gegen den Sizilianer Clan das Wort erhebt, ist er zwar nichts
anderes als einer der vielen freiheitsliebenden Frauen und Männer
im Politfilm, aber seine Moralvorstellungen sind durchaus
ehrenwert.
Höchst dramatisch in Szene gesetzt, ohne selbstzufriedenes
Geblubber, gepaart mir Zartheit, Poesie und viel Sensibilität
zeichnet „100 Schritte“ das Porträt eines jungen Mannes, der sich
keine Ruhepausen gönnt: gegen die Familienbande kämpft, gegen
Korruption und Stillschweigen, gegen Vater und Onkel, gegen
die Loyalität, gegen den Mafiaboss
Gaetano Badalamenti (Tony SPERANDIO), gegen ‘gerechte Gewalt’.

Obwohl er selbst der Verbürgerlichung unterliegt, macht ihn doch
ein gewisser Konformismus nicht blind.
Im Zerrbild der Bildersprache gelingt es dem politisch-engagierten
Regisseur GIORDANA viel über Macht, über Einfluss von Macht, den
Umgang mit ihr auch an diesem Vater-Sohn-Konflikt auszusagen.
Zum gesellschaftlich übergreifenden Kino wird deshalb sein Film
nicht. Dazu steht er auch nicht in irgendeiner politischen Protestbewegung,
oder in einem Fragekatalog, mit dem Politfilme ihre Arrangements
beginnen.
Der berufsmäßige Politiker Peppino, der mit den Kommunisten sympathisiert,
und gleichsam alle Stationen des Protestes (Aktionen gegen den Bau eines
Flughafens, Gründung eines Piraten-Senders, Straßentheater, Beteiligung an Kommunalwahlen), durchläuft, erinnert auch an die bundesdeutsche Protestbewegung, die sich nach der 68er Bewegung in viele
Mao-Gruppierungen mit ähnlichen Ambitionen niederschlug.

Tragödien sind selbst im Film nicht aufzuhalten.
Der Vater kommt unter mysteriösen Umständen um, Peppino wird
ermordet.
Das Begräbnis von Peppino kommt zuweilen der Beerdigung von
Holger MEINS (13. November 1974) nahe: der Trauerzug mit
roten Fahnen, Transparenten und der erhobenen Faust, all das
hat verblüffende Parallelen. Und viel vom Leben und Sterben in
einem.
Die Bezugnahme ist aktueller denn je. Der Zeitgeist atmet
Beat-, und Hippie Bewegung. Die Musik von den Sweet,
Procol Harum, Janis Joplin und Leonard Cohen, bildet eine
eine angemessene Umrahmung.
Die Welt lässt sich nicht mit dem Geist der Wahrheit verändern.
1000 kleine Schritte sind manchmal sehr wirkungsvoll, vor allem
dann, wenn man keine andere Wahl mehr hat.
100 Schritte darf jedoch nicht überinterpretiert werden.
Dieser ‚Polit-Spielfilm’ sollte das Bewusstsein dafür erhellen um
über eine Epoche mit Bitterkeit zu reflektieren.

Fazit: Ein Toller Film mit einem herausragenden Luigi Lo CASINO.
Die Stille, die Dauer und die Trauer sollten nach dem Kinogang
überwiegen. Vielschichtig und verstörend ist die Botschaft:
wer sich am Ende beugt, der beugt sich selbst.
Dietmar Kesten 27.1.04 17:22

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