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Was ist Realität? Dietmar Kesten 29.6.04 17:10

THE MATRIX

WAS IST REALITÄT?

von DIETMAR KESTEN, GELSENKIRCHEN, 20. JUNI 1999.

Keanu REEVES lacht nicht. Es gibt in „The MATRIX“ auch nichts zu
lachen. „The MATRIX“ ist ein Paralleluniversum, und die Bewohner
dieses Planeten leben darin, und ahnen nicht, dass der Boden auf
dem sie stehen, unter totaler computergenerierter Kontrolle steht.
Hinter der Schiebewand brennt der Himmel: “The World is My Oyster!”
Die Geschichte ist eine düstere Zukunftsvision, und darum darf nach
mehr als 2 Stunden Kino die Frage gestellt werden,
ob es nicht in der Zukunft zu einem reinen Videospiel mutiert, das
sich in einem kybernetischen Raum befindet, weil in diesem der Tod
des Gehirns im Cyberspace zugleich den des realen Körpers einschließt?

Die Geschichte zu erzählen, ist möglich, aber nicht unbedingt sinnvoll:
ziehen wir die Schlussfolgerung, „dass der Mensch eine Maschine ist
und dass es im ganzen Universum nur eine einzige Substanz - in
unterschiedlicher Gestalt - gibt“, behauptete der französische Philosoph
LA METTRIE (1709 -1751) einmal.
Die Gleichung, wonach Tier und Mensch „aufrecht kriechende Maschinen“
sind, die sich selbst aufziehen, ist gar nicht so abwegig, wenn daran gedacht
wird, dass die moderne Gesellschaft auf alles Anschläge verübt, was uns einst
lieb und teuer war: Geist, Seele, Moralität, Glück, Freiheit. Und in der
Zwischenzeit muss auch der Freigeist eingestehen, das dafür nur noch
pietätloser Spott übrigbleibt: Der Spaß hört auf!!

Neo (Keanu REEVES) ist auserwählt, die apokalyptische Mission zur
Rettung der Welt zum Ende zu bringen. Diese hängt nur noch an den
Energiequellen der Großcomputer, und die Menschen werden für die
herrschenden Maschinen gezüchtet.
Die Bande der Gesellschaft ist für immer zerstört. Man könnte auch
sagen: es herrscht eine Computer-Maschinenanthropologie, die in der
Gleichung aufgeht: Mensch=Maschine=Geist.
Es gibt zunächst die Umwelt, in der die Menschen in der Matrix
leben, doch von Minute zu Minute wird immer unklarer, was Realität
und was nur Schein ist. Das macht die Sache nicht einfach.
Doch darin stecken hochinteressante Aspekte der modernen Philosophie,
die alten Fragen von den Dingen, den Ereignissen in der Umwelt, von der
Signale ausgehen- bis sie schließlich die menschlichen Sinnesorgane
erreichen und dort von spezifischen Sinneszellen registriert werden.
Was wäre, wenn das Leben ein einziger Traum wäre, was, wenn wir nur
Gestalten im Traum eines anderen wären, was, wenn Furcht, Sehnsucht
und Angst nur in einer anderen Welt Realität sein würde, was, wenn
Traumwelten, Science-Fiction in Cyber-Zeiten und Parallelwelten nur ein
Blendwerk wäre?
Was wäre, wenn künstliche Intelligenzen keine Hirngespinste wären,
was, wenn sie einen elektrochemischen Impuls setzen würden,
der auf das Gehirn übertragen, dort weiterverarbeitet wird, bis er uns
in Bewegung setzt?
Neo wird von diesen neuronalen Netzen gesteuert, fortwährend
(geistig) verändert bis sich sein Gehirn in ein komplexes Aktivitätsmuster
verwandelt, und beginnt, auf Bewegungs- und Verhaltensorgane
Einfluss zu nehmen.

Für den äußeren Beobachter ist die ersichtliche Wandlung eines
Menschen zum virtuellen Einzelkämpfer vielleicht mit der Einsicht verbunden,
dass die vielfältigen Mechanismen, mit der die Moderne Sprechanreize
eingerichtet, Abhör- und Aufzeichnungsanlagen, Verfahren zum
Beobachten, Verhören, Aussprechen und Ausspionieren extrahiert
hat, anordnete und institutionalisierte- und damit eine ungeheure
Beredsamkeit einfordert und organisiert, in relativ kurzer Zeit
eine derartige Menge von Ängsten gezüchtet hat, und für die komplexe
Ausbreitung ihres Verbindungsnetzes sorgte, dass Anpassungsmanöver
und Übertragungsversuche auf eine sowieso schon latente
Realangst irgendwann in eine Widerstandsstrategie einmünden,
die auf den Menschen sensorisch zurückwirken, und erst dadurch
ein Gesellschafts- und Umweltveränderndes Verhalten auslöst bis der
Informationskreis für alle Zeiten geschlossen ist.

Sollte sich darin eine gesellschaftliche Realität verstecken, oder ist
sie nur eine Scheinfiktion, die mit dem Schlucken einer
Pille („nimm die rote oder blaue Pille“- Morpheus stellt im Film
Neo vor die Wahl) Wahrheiten oder Unwissenheiten, vielleicht den
verwissenschaftlichen Terroristen hervorbringt?
Maschinenmodelle lassen sich teilweise künstlich nachbauen, sie
lassen sich an Großrechner anschließen. Gehirne werden in der
Zukunft mit Computern simuliert werden - es ist also keineswegs
übertrieben, die Roboter als unsere kommenden ‘nächsten
Verwandten’ zu bezeichnen.
Da hat der Film vieles von dem vorweggenommen, was sich im
Modell einer evtl. Dekade der neuen Hirnforschung niederschlagen
könnte.

Denn die emphatisch ausgerufene Bilanz, die es zu ziehen gilt,
muss ernüchternd ausfallen: was lässt sich erklären, lässt sich das
Bewusstsein erklären, die monadischen Charaktere?
Neurobiologen, Hirnforscher, Informatiker, Kognitowissenschaftler,
Vertreter vieler anderer Disziplinen liefern täglich plausible
Hypothesen, Ansätze, Lösungsversuche - doch alles erstarrt in der
Selbstreferentialität, in der Nabelschau und ist deswegen ungemein
irritierend.
Der Philosoph DESCARTES meinte noch, dass wir es sind,
„die da denken“. Doch im Zeitalter der künstlichen Intelligenz
ist das alles nicht mehr sicher. Der Mensch handelt nämlich
unbewusst, und er nimmt seine Umwelt mehr und mehr
unbewusster wahr.

In „The Matrix“ braucht man sich andere Welten nicht mehr
zu erträumen, auch wenn sie sehr trügerisch sind, fantasievoll
ausgestattet, errechnet inmitten von Special-Effekten, normativen
Bildern und Visionen, halluzinierten Welten, in der mühelos zwischen
Geist und Körper kommuniziert werden kann. Alles ein Traum?
Nur ein Traum? Wie sehr sich unser gesamtes Begriffsvermögen
durch Technologien beeinflussen lässt zeigt „The Matrix“ beklemmend.
Wir brauchen uns nur noch einzuloggen und schon sitzen wir in den
Schaltzentralen der Welt, umgeben von freundlichen Beschützern und
unfreundlichen Wegbegleitern.

Karl Koch spielte in „23“ (Regie: Hans-Christian SCHMID, 1999)
bereits ausgiebig mit der Computerwelt, mit der Datenvernetzung,
mit der virtuellen Realität, die für ihn tödlich endete.
Neo ist ihm einen echten Schritt voraus: ein High-Tech-Traum beginnt.
Spätestens dann, wenn er in einem anderen ‘Ich’ ist, beginnt das
aberwitzige Spiel: Wahrnehmungen, Gefühle, Gedanken durchrasen
seinen Körper- seelisch-geistige Zustände in einem neurokybernetischen
Modell!
Oder kommen seelisch-geistige Zustände gar nicht vor, weil alle vom
Traum besessen sind, was LA METTRIE als Quintessenz der Wissenschaft
vom Menschen glaubte zu wissen?
Wenn Seele und Geist des Menschen nur Hirngespinste sind, oder nur
Namen dafür, dann werden andere Erklärungen für menschliches
Verhalten notwendig sein. Im Film jedenfalls werden Wahrnehmungen,
Gefühle, Gedanken und Wünsche mit denjenigen intelligenten Maschinen
identifiziert, die omnipräsent sind. Und während die Menschen um ihre
Energie kämpfen, ist Neo selber zu einer Energiemaschine geworden und
abhängig von Computerprogrammen.

Kann man sich seiner selbst sicher sein, der Phänomene, des
Selbstbewusstseins? Besteht unser Handeln nur noch im
physiologisch-physikalischen-biochemischen Bereitschaftspotential,
das mit dem Ausführen einer Handlung gleichzusetzen ist, zu dem
eine Person den Entschluss fasst, die schwarze oder die grüne Taste
zu drücken?
Alles erscheint künstlich errechenbar zu sein, das GÖDEL-ESCHER-BACH
Prinzip- um es paradox zu formulieren: die Handlungsentscheidungen
sind längst gefallen, und wenn eine bewusste Intention ausgebildet
erscheint, ist sie in diesem Augenblick keine Realität mehr.
Wir haben uns verloren im Datenraum, der Cursor zeigt uns den
Weg, e-Mails bringen uns ans Ende der Welt, wir empfangen, obwohl
wir wissen, dass das, was sich über Bits und Bytes als
Energiemenge einen Weg bahnt, uns schon 200 Millisekunden voraus ist.

Kausale Grundlagen für Handlungsentscheidungen wird es wohl immer
weniger geben. Der Mensch ist gefangen im Netz! Und alle folgen den
Computerprogrammen - das ist so steril, dass „The Matrix“ wieder
manipulierbar erscheint. Und die irrealen Rebellen hacken munter
darauf los. Sie sind Hacker, die mit ihren Gehirnen das tun, was wir
nicht wollen.
Drücken sie Taste, und zwar, wann und wo sie wollen!
Die Experimentatoren der Software-Agenten haben inmitten einer
virtuellen Realität eine irrealen Platz, umgeben sich mit einem
elektrophysiologischen Gehirn, mit dem sie Ereignisse in ihrer
Schein-Umwelt beeinflussen können und stimulieren diese
mit übermenschlichen, sogar übernatürlichen Geschwindigkeiten.
Das ist schon wieder so irrational, dass der Begriff der Vernunft dauernd vor
den Augen verschwindet.
Wenn eine schöne Lederlady zu Karatekämpfen ansetzt, im
Kung-Fu-Stechschritt reihenweise ‘Kopfagenten’ ausschaltet, nahezu
mühelos die Gesetze der Schwerkraft außer Kraft setzt, sich
im Wirbel der Zeitströme mit Gewehrkugeln herumschlägt, dann ist der
Plan die Handlung, die Handlung die Ausführung.

Ein rationales Seiendes ist eins, dessen Überzeugung man eher durch Worte
als durch Zwang verändert: menschliche gegen künstliche
Intelligenz - der Tod des selbstbestimmten handelnden Menschen ist
im Cyberspace mit dem Ende des realen Körpers vorprogrammiert.
Gespräche lassen sich nicht mehr durch Argumente beeinflussen.
Erinnern ist Erkennen. Wenn Erinnern keine Vergessenskatastrophe
bleiben soll, dann ist es ein Fehlschluss, die ‘Krone der Schöpfung’ als
technisch beliebig manipulierbar darzustellen. Doch das erscheint nur
als ästhetisierende Theorie - der Computer ist die Belohnung
für den neuzeitlichen Menschen, der mit ihm - zwischen Fernsehen
und Buchkultur stehend - seine endgültigen Gitterstäbe gewählt hat.

Hirnforscher und Neurobiologen, das computerisierte Technopol haben die
Realität längst verändert, abgebildet, verfilmt, und immer wieder ein
bisschen mehr normalisiert. Weil das Gehirn wohl diesen permanenten
Stimulus benötigt, um eine Maschine zu werden, Sprache zu
verstehen, zu produzieren und mit anderen in den kommunikativen
Austausch zu treten, deshalb ist der Wachzustand der Traumzustand,
das In-Sich-Versunkene, der Schlaf, aus dem es kein Erwachen mehr
gibt.
Atemberaubend ist es allemal. Der Wahrheit sind mehr als enge
Grenzen gesetzt: ständig klingeln Telefone, Zahlen stürzen in sich
zusammen, Scheinwelten werden aufgetan, eine schier endlose
Reise durch Raum und Zeit lässt Verfolger in Häuserschluchten stürzen.
Im Film fängt die Kamera diese bedrohlichen Bilder sehr genau ein.

Neurotechnisch zugerichtete Labormonster erreichen den Träumenden,
der die ironische Erlösungsgeschichte zerhackt - bis alle Welt glaubt,
dass jeder neurokybernetische Vorwurf der Verhaltensmodelle ins
Leere abdriftet.
Weit gefehlt. Das Licht der Vernunft bleibt die computerisierte Welt,
die Apokalypse, die in die Moderne eingebunden und terminologisch
synthetisiert ist. Erleuchtet ist zum Schluss niemand.
In Bezug auf die Metaphern, mit der der Film umgeht (Weltfluchten,
Schein-Realitäten, Bilder, Mythen, Geschichten, Figuren und
Handlungsstränge), ist alles surreal.
Neo sagt einmal: „Es ist alles nicht so real!“
Dass ist trotzdem konsequent gedacht. Der Mensch bleibt eine Maschine!
Nur, von wem er erleuchtet wird, dürfte bis ans Ende der Welt
unklar bleiben.

„The Matrix“ setzt alles aufs Spiel, womit wir gelernt haben,
umzugehen: Komik, Mimik, Gestik, Gewalt, Zerstörung, Rausch,
Liebe, Zugehörigkeit, Romantik, Poesie - ein komplettes
Gedächtnis- und Vergessensdrama bahnt sich hier an.
„Denn alles was entsteht, ist wert, dass es zugrunde geht“, lässt
GOETHE Mephistopheles sagen. „The Matrix” hat diese
monumentalische Geschichtsbetrachtung bestens verstanden, es hat
sie frei Haus geliefert, die großen Computergestalten, die vernetzten
Ereignisse, die dunklen Grundierungen vom Tod der Megamaschine
Mensch.
LA METTRIE meinte, vom Menschen als eine Art
„erleuchtete Maschine“ reden zu müssen.
Sollten wir uns von dieser Gleichung
MENSCH=MASCHINE=GEIST provoziert fühlen?

Weg mit allem Vergangenen! Es gibt keine Wahrnehmung mehr,
keine Wahrnehmung der Realität- sie findet sich wieder in
den tiefsten Schichten des Menschheitsgedächtnisses. Wir folgen
dem digitalen Code, Kinobilder zielen darauf ab, Weltflucht und Realität zu
vermengen. Alles wird zum Bildschirm, der beliebig zu (ver-)ändern ist:
das kausale Netz hat keinen Platz mehr in unserem Modell. Alles
erscheint aufgehoben und untergeschoben, ehrenrührige und
unverzeihliche Vergesslichkeit bricht sich Bahn, hemdsärmelig und
pragmatisch. Das Leben ist ein Videospiel, ein Rausch, eine Orgie
von Gewalt - Zerstörung, das Ende!!

Sollten sich alle tiefsten philosophischen Fragen mit der Matrix erledigt
haben?
Offenbar fällt der neuzeitlichen Philosophie zur Frage des
exklusiven Bewusstseins nicht mehr viel ein.
Vielleicht hat sich der Film deswegen auf diese Frage gestürzt?
Es gibt keine Bewusstseinswissenschaft: alles nur
Multimediaproduktionen?
Wenn ein Raunen und Rauschen aus weiter Ferne an das
Hörorgan der Zuschauer dringt, liegt ein Schleier der Abwesenheit
auf allen Tagträumern. Untote bekommen Schauspielerpreise
verliehen, die Träumerei liegt auf den Wiesen der Kindheit
begraben. Das Röhrensystem, durch das der Schaltplan des
Weltrechners in die Tiefe stürzt, wird wie im Sturm genommen,
taucht an anderer Stelle in neuen Scheinwelten wieder auf.

Fazit: „The Matrix“ nimmt einen wie ein Orkan gefangen.
Und wenn die Fußgängerzone der Scheinwelt betreten wird,
dann steht der Terminator vor einem, runderneuert, bizarre
Beklemmungen hervorrufend.
Kunst, Kultur, Realität, Fiktion, entstanden in den Gehirnen
von Software-Designern?
Egal, darum geht es nicht, es geht auch nicht um Gummi,
Glatzen, Sonnenbrillen und Lack-Leibchen.
Es geht schlicht um eine virtuelle Realität, um die Zukunft des
autistischen Wahnsinns, dass jemand ein Loch ins Glasfenster
schießt und gleichsam wieder metaphorisch-formalistisch
zukleistert. Es geht um das wahre Unglück in einer falschen
Welt.

Dietmar Kesten 29.6.04 17:10