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Mystic River

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Mystic River Dietmar Kesten 5.12.03 10:13

MYSTIC RIVER

DIE UNERTRÄGLICHE LEICHTIGKEIT DES SEINS

von DIETMAR KESTEN, GELSENKIRCHEN, 4. DEZEMBER 2003.

Die Jugendfreundschaft dreier Männer zerbricht an einem Verbrechen.
Clint EASTWOOD („Erbarmungslos“, 1992, „Die Brücken am Fluss“, 1995,
„Absolut Power“, 1997, „Ein wahres Verbrechen“, 1999,
„Space Cowboys““, 2000) hat mit „Mystic River“ einen Film über die
Ohnmacht des Individuums gegenüber dem Schicksal gemacht.
Als Kinder waren Jimmy (Sean PENN), Sean (Kevin BACON),
und Dave (Tim ROBBINS) beste Freunde, bis Dave von
Pädophilen entführt und missbraucht wurde.
Danach war nichts mehr wie vorher.
30 Jahre später führt ein anderes Verbrechen die drei wieder zusammen.
Die Tochter von Jimmy (Katie) wird ermordet aufgefunden, Sean,
inzwischen Polizist leitet die Ermittlungen und Dave wird bald der
Hauptverdächtigte.

Niemand gibt einem Auskunft darüber, was sich am Grund eines
Flusses angesammelt hat, dem Fluss ohne Wiederkehr.
Wir gleichen dem alten Mann in einer Sage, der die Namensschilder
der abgelaufenen Lebensspulen in seinem weiten Mantel
einsammelt und zu einem Fluss trägt.
Unzählige Namensschilder werden ständig von der Flut davongetragen
oder versinken im Schlamm des Flusses, bis auf wenige, die
gerettet werden.

Alles was wir sind und tun wird vom Lebensfluss davongetragen:
die religiösen und philosophischen Dimensionen, die Begnadigung
des Herrschers, die Amnestie nach einem Krieg, die rechtlichen
und ethischen Dimensionen, Versprechen, Verbrechen, Treue, Schuld,
Sühne, Schulden, Gedächtnispathologien.
Das Vergessensmaterial ist unerschöpflich, es ist abgründig ambivalent.
Und überall auf der Welt zu beobachten.
Erst manches wird mit der Zeit an die Oberfläche gespült.
Der Strom als Spiegelbild der gemarterten Seele. Das ist
eine nahe beieinanderliegende Metapher.
Hier irgendwo vollziehen sich die Dramen der Menschen.

Der Grat ist so schmal, dass selbst die schlafwandelnde
Lady MACBETH, die allnächtlich durch die Jahrhunderte
eilt, vergeblich versucht, sich das Blut von den Händen zu waschen.
SHAKESPEARE jagte die Mörderin mit Furien des schlechten
Gewissens bis ans Ende der Geschichte.
Die Erinnerung des Dichters lässt sich nicht einschläfern, sie
bleibt hellwach wie im ersten Augenblick und für die Lady, die
Nacht für Nacht an den Ort der ungesühnten Verbrechen zurückkehrt.

Stand am Anfang die Unschuld?
Jimmy, Sean und Dave, drei Jungs aus dem Bostoner
Hafenviertel werden mit der gemeinsamen Vergangenheit
konfrontiert, der sie sich gegenübergestellt sehen.
Hierum kreist letztlich der Film. Wen es im Leben erwischt, wann
und wo, ist oftmals nicht zu begreifen. Da helfen keine
religiösen oder psychologischen Erklärungsansätze. Die erbarmungslose
Welt nimmt uns vom Schachbrett, wann immer es ihr gefällt.
Dieser Welt wird Sean als Polizist nicht gerecht, und während Dave mit
hängendem Kopf und fahrigen Gesten seine Unschuld beteuert, und sich
letztlich für einen Mord bekennt, den er nicht zu verantworten hat, wird
Jimmy zum seelischen Krüppel, der zwar manchmal zu sehr aufgesetzt
den Schmerz über den Tod seiner Tochter herausschreit, aber von unten
oder oben betrachtet, das Thema vom Leben und Sterben eindrucksvoll
darstellt.

EASTWOOD, der dieses Thema schon mit „Erbarmungslos“
bravourös darzustellen vermochte, zeigt sich auch in „Mystic River“
als Meister seines Faches: alles ist unabänderlich, nichts ändert sich.
Und so besteht das Innenleben der drei Männer aus den
wiederkehrenden Motiven von Gewalt und Trauer, der Unfähigkeit zur
Aussprache.
Das Leiden erscheint als Kreislauf. Selbst am Morgen nach der
Vergeltung als Jimmy gebrochen an der Schnapsflasche hängt,
gelingt es EASTWOOD diese Momente visionär von der Kamera
einfangen zu lassen. Ein unfassbarer perfider Moment im
abgedunkelten Schlafzimmer, der nur noch von der Schlusssequenz
überboten wird: im Sonnenschein zieht eine Parade mit Pauken
und Trompeten vorüber, Jimmy und Sean stehen sich auf der
jeweils anderen Straßenseite mit ihren Familien gegenüber
und blicken sich wissend an.

Fast scheint es so, als ob EASTWOOD zum Philosophen unserer
Tage wird: in unserem Gedächtnis werden aus Niederlagen Siege,
Missetaten werden zu Wohltaten, Angriffe bleiben Notwehraktionen.
Unsere Psyche besteht aus Labyrinthen und Katakomben, in denen
Verhüllen, Verdrehen und Verleumden zum alltäglichen Ritual
geworden ist.
Alles andere wäre eine Lüge.
Und man benötigt höchste Willenskraft und Raffinesse, einen
geradezu detektivistischen Spürsinn, um gegen die Strategien des
Vergessens und des Verdrängens anzukommen.
Wir sind voll von falsch überlieferten und auf den Kopf gestellten
Erinnerungen: dem Vergessen von Verbrechen, dem Verleugnen von
Niederlagen.

Nicht nur weil die Erinnerung versagt, sondern weil Aggressionen
unser Erbteil sind, und wir nach Kämpfen, nach Leid und Tod
in unserer unmittelbaren Umgebung, die unser Hasspotential
entleeren, langsam wieder zur alten Blüte heranwachsen, bis
wir wieder Kriege, Aggressionen, Unbeherrschtheit und Egomanie
brauchen.
Weil der Mensch den Hass, den er kriminell nicht ausleben darf,
in einem kollektiven Entleerungsprozess namens Aggression
verschütten muss und weil auf sie die Versöhnung folgt, wie der
Durchhänger auf den Alkoholrausch.
Das Vergessen gehört zum Verbrechen wie das Abwaschen des
Blutes zur Mordtat.
EASTWOOD, vielleicht ein Meister der Verdrängung, schält diesen
radikalen Kern heraus.
Jeder ist sich selbst der Nächste. Auf Vergebung kann niemand
hoffen.

Aber wer lebt damit, wer kann damit leben?
Wir würden, wenn wir nicht vergessen würden, unter dem Wust der
Erinnerungen ersticken, wenn wir uns an all das Schlimme, was uns
angetan wird, und vor allem, was wir anderen angetan haben,
erinnern müssten.
Das bleibt der blinde Fleck in unserer Erinnerung und der Geschichte.
Wir Menschen sind uns selber blind.
Wir halten uns für besser, für schlechter, als wir sind.
Für intelligenter als andere, dümmer, jünger oder ärmer.
Wir haben kein abgewogenes Urteil über uns. Wir sind eben so
hoffnungslos monadologisch konstruiert: so klein von außen, so
riesig von innen.
Wir sind Opfer im Netz. Die Bosheit der Welt erschlägt uns.
Sind wir gut und wahrhaftig?

Die drei Jungs aus Boston leben von und mit der Erinnerung.
Sie bringen sie irgendwann in einem Punkt zusammen.
Die Ereignisse, die sie umgeben, geben auch zu erkennen: wir
leben mit Illusionen. Wenn wir jung sind, gleicht die Zukunft einem
Füllhorn, das lauter herrliche Geschenke über uns verschüttet,
und wenn wir alt sind, liegt milder Sonnenschein auf unserer
Kindheit.
Da in Wirklichkeit ein Leben aus wenigen paradiesischen
Augenblicken besteht, so vielen höllischen Jahren, ist es
manchmal trostreich, in der Illusion zu verharren, in der fernen
Zukunft oder in einem anderen Leben.
Und immer wieder kommt der Gedanke hoch, dass es möglich
ist, diese haarstäubende Realität zwischen Glück und Unglück
zugunsten des Glücks zu verbessern.

Wir bleiben süchtig. Aber das Leben bietet wenig Stoff.
„Mystic River“ ist die Rückwendung des Lebensblicks die
Sanduhr hinab, dieser Schlüsseldrehung des Denkens, die
dazu führt, dass wir unserer Zukunft den Rücken kehren,
verherrlichen, was war, und verteufeln, was kommen mag.
Wir sind wie wandelnde Sanduhren. Erst waren die Füße leicht,
und der Kopf war voller Ideen, dann werden die Beine schwer und
der Kopf wird langsam leer.
Und doch zeigt EASTWOOD auf, das inmitten von Trauer, Zorn,
Rachegelüsten, Gewissenkonflikten und Schuldgefühlen, die
Sekunden des Augenblicks im Leben zählen.
Fürwahr ein grandioser Film mit einer mehr als nachdenklich
machenden Botschaft:

„Hätten die Menschen doch im Leben gesiegt, ehe sie im Tod
den Sieg davontragen.“ (Cicero)

Dietmar Kesten 5.12.03 10:13