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Anything Else

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NEUROSEN ALS KOMÖDIE Dietmar Kesten 4.9.04 14:41

ANYTHING ELSE

NEUROSEN ALS KOMÖDIE

von DIETMAR KESTEN, GELSENKIRCHEN, 4. SEPTEBMBER 2004.

Woody ALLEN („Bananas“, 1971, „Machs noch einmal Sam“, 1971,
„Die letzte Nacht des Boris Gruschenko“, 1974,
„Was sie schon immer über Sex wissen wollten“, 1972,
„Innenleben“, 1978, „Der Stadtneurotiker“, 1977,
„Manhattan“, 1979, „The Purple Rose of Cairo“, 1984,
„Broadway Danny Rose“, 1984, “Hannah und ihre Schwester”, 1985,
„September“, 1988, „Alice“, 1990, “Bullets over Broadway”, 1994,
“Geliebte Aphrodite”, 1995, „Alle sagen: I Love You“, 1996,
„Harry außer sich“, 1997 “Im Banne des Jade-Skorpions”, 2001) ist
ein exzellenter Drehbuchschreiber und Regisseur.
Er verbringt seine Kunststücke alleine mit seinem Intellekt.
Umso schwieriger mag es sein, seinen Filmen zu folgen. Er ist
ein Komiker der Gedächtniskunst, ein beißender Satiriker.
Und vielleicht deswegen nicht im eigentlichen Sinne Komiker.
Der Witzeerzähler, Kinophilosoph und legendäre Opening-Star
versteht es, fiktive Lebensgeschichten zu erzählen,
die manchmal eine Zumutung sind, die jedoch immer mit jener
Sensibilität unterlegt sind, die die Sehnsucht nach einem
authentischen Leben widerspiegeln.

In vielen seiner Filme machte er den Psychoanalytiker,
Dr. Freud und seine berühmte Couch, die Psychosomatik,
die Hinfälligkeit der Moralität, Triebdynamik, Manipulierung
und Bindungsangst salonfähig.
Wenn jemand heute an seinen „Stadtneurotiker“ denkt,
meint jede/r zu wissen, dass es dort um Gespräche ging,
um die erstaunliche Fähigkeit, sie zu inszenieren und in
der historischer Genese sichtbar zu machen.
In der Tat nahm ALLEN diesem das Stigma von Krankheit
und Ausweglosigkeit.
Für ALLEN war der Besuch bei einem Psychiater eine rein
komische, schreiend brüllende und meist verlorene und
verlogene Situation. „Der Stadtneurotiker“, “The Purple Rose of Cairo”,
aber auch “Bullets over Broadway” sind Filme, wo man denken
sollte, dass man mehr an sich selbst zweifelt und an der Gesellschaft.
Wenn dies mit großem Ernst unterlegt ist, dann sind das
seine romantischen Sehnsüchte, die zu jeder Zeit den
rationalen Erfordernissen entsprechen können, über die er
philosophiert. Das Leben ist für ihn eine Serie von Pannen,
Missverständnissen. Trotzdem spiegelt sich hier ein sehr
nachdenklicher Mensch wider.

In seinem neuen Film schließt ALLEN eigentlich an „Manhattan“
aus dem Jahre 1979 an.
Dort hatte er mit dem Leben scheinbar friedlich abgeschlossen.
Der Schriftsteller Isaac, der er selbst war, tritt hier unvermittelt wieder
auf. ALLEN, der in „Anything Else“ den Gagschreiber David Dobel spielt,
sammelt Verbündete für die Ansicht, dass es sich doch lohnt, das
Leben zu erhalten, wenn er sich auch ständig (vor allem in „Manhattan“)
fragt, ob es sich das Dasein lohnt.
Ein Mann sucht Trost gegen das Nichts. Und der größte Trost
ist für ihn, dass er bei den Toten sein kann, besser: in der Kunst
der Toten und der Heiterkeit; denn sie kann einem niemand
nehmen.

Sigmund FREUD sah den Sinn des Lebens, wenn man so will
in Sex und Arbeit. Für David Dobel (Woody ALLEN) ist Sex allerdings
nur eine reine Formsache, eine Illusion von Beständigkeit und
Arbeit für die Illusion von Sinn.
Dobel schlägt sich mehr schlecht als recht als Gagschreiber für
TV-Komödianten durchs Leben.
Umso leidenschaftlicher sind jedoch Dobels Ratschläge an seinen
jungen Kollegen Jerry Falk (Jason BIGGS), dessen Beziehung zur
manisch erotischen Amanda (Christiana RICCI) nur aus einer Flut
desillusionierender Rückschläge besteht.
Dobel hat sich vorgenommen, in Jerrys Leben aufzuräumen.
Der Film, der in Amerika u. a. wegen
Jason BIGGS („American Pie“, Regie: Paul WEITZ, 1999,
„American Pie - Jetzt wird geheiratet“, 2003, Regie:
Jesse DYLAN) floppte, ist nicht mit jener hormonbedingten
Ersatzhandlung aus diesen Filmen zu vergleichen und hat mit
spätpubertärem Erotikgehabe amerikanischer Twens wenig
zu tun.

ALLEN durchlebt auch weniger psychologische Abgründe
seines menschlichen Großstadt-Daseins, aber er erinnert sich
gerne an seine Lösungen, die er in zig Filmen angeboten
hatte.
So nahm ich „den Feuerlöscher aus der Halterung und schlug
ihn dem Psychiater ins Kreuz“.
Das ist der Startschuss für Biggs, nun die Dinge selbst in die
Hand zu nehmen und vor allem mit Amanda klar zu kommen.
Erstaunlich reibungslos übernimmt BIGGS, dem man dieses
Talent gar nicht zugetraut hätte, den Staffelstab der Neurosen
ALLEN aus der Hand.
Groteske scheint ihm mehr zu liegen als tölpelhafter
Komödienverschnitt; denn hier bringt er durchaus Lacher.
Und angesichts menschlichen Unverstandes spielt er
mit schicksalsergebener Mine einen Mann, der sich kaum der
zickigen Amanda bis zum Schluss richtig erwehren kann.
Sein intellektuelles Sendungsbewusstseins lässt ihn hier nicht
als Sieger gegen ALLEN hervortreten, auch wenn seine
höchst zweifelhaften Psychoanalysen auf wackligen Füßen
stehen, wird er ALLEN jedoch zum würdigen Gegner.

ALLEN ist als Schauspieler ersetzbar, das lernt man. Man
lernt, das sein schauspielerischer Herbst eingesetzt hat.
Hinter der Kamera bricht allerdings ständig sein Frühling
aus; denn sein Gespür für Nebenfiguren ist diesmal
wieder schlicht exzellent.
Besonders Christiana RICCI („Sleepy HOLLOW, Regie:
Tim BURTON, 1999, „In stürmischen Zeiten”, Regie:
Sally POTTER, 2000, „The Gathering“, Regie:
Brian GILBERT, 2003, „Monster”, Regie: Patty JENKINS, 2003)
ist hier sehr sehenswert.
Als Zuseher kann man ihr verfallen. Ihr ständiges raffiniertes
Spiel aus Lüge, Halbwahrheit, gespielter Depression,
Desorientierung und erotischer Manie ist sachliche Geilheit.
Sex in der Beziehung zu Jerry ist für sie nichts anderes
als eine Kommunikationsform, die jeden Inhalt außer den
körperlichen annehmen kann.
Es mag komisch klingen: hier hat noch niemand zur
Entmystifizierung des Sexus beigetragen wie sie, die
von ALLEN inspiriert, eine famose Rolle abliefert.

Mit „Anything Else“ schließt ALLEN in Wort und Bild
an seine bekannten Werke der 70er und 80er Jahre an.
Von Selbstzweifeln genagt, ständig der Verunsicherung nahe,
überträgt ALLEN seine Geschichten auf die jugendlichen
Neurotiker, die seinen Kontext ausfüllen.
ALLEN dupliziert sich immer selbst. Wenn er schon nicht
als Hauptperson auftritt, dann sind das seine Schauspieler,
seine Leinwandfiguren, die die Doppelrolle ausfüllen und
quasi als Selbst-Darsteller ihr Leben als Spiegelung oder
Selbstspiegelung verstehen.
Fehler kann ALLEN nicht mehr machen; denn er hat schon
alle gemacht. Der ewig gleichende Kreislauf der
Filmdialoge gehört dazu. Sicher, er hätte gerne diese Fehler
vermieden, aber wiederum weiß er, dass hier die Illusion
an der Zeit nagt. Nicht zu unrecht will er warnen, seine
jüngeren Kollegen vor der Manipulation und vor der
Verbindung zwischen Meisterstücken und Illusionskunst.
Denkt man an „Purple Rose of Cairo“, dann bricht das hier
erneut auf.
ALLEN verliebte sich dort in eine Frau aus Fleisch und Blut.
Aber die Menschen leben in einer Phantasie. Manchmal ist
sie ein Fantasiegeschöpf.
Ein Fehler, den sich ALLEN verziehen hat; denn sein jüngeres
Ich tritt als geläutertes Selbst in „Anything Else“ zutage.
Und er warnt nicht unbegründet vor jenen Fehlern, die er gerne
hätte vermieden.

Schlussendlich ist die trügerische Illusion auch eine
Sprachlosigkeit.
Wenn etwa Amandas Mutter (Stockard CHANNING) in die
gemeinsame Wohnung einzieht, dann sind diese Außenaufnahmen
Bilder der Sehnsucht, Entfremdung und Einwanderung, Innenansichten
aus verschiedenen Montagen des Stadtlebens.
Dem fügt sich selbst der Manager (Danny DE VITO) gnadenlos ein,
ein ausgebuffter Typ, abgebrüht so wie das gesamte Umfeld.
Hier liegt der Reiz; denn es gilt zu verstehen, nicht unbedingt zu
konsumieren.
Viele Geschichten sind gelungener Wortwitz. Wie bei
Helge SCHNEIDER und seinem oft übertriebener Sinn für
die filmischen Gags, so bestehen hier die Dialoge aus wenigen
Pointen, die allerdings sitzen und die Anfänge der amerikanischen
Stand-Up-Comedians zeigen.
“Anything Else” zeigt, dass hier der Reiz liegt: das Liebesleid
ist nicht mit der Psychoanalyse zu retten, die Weltfremdheit
nicht durch eine neue Beziehung, die Erfolgsträume gipfeln
nicht zwangsläufig in einem neuen Job, die Lebenslüge ist
das Ringen um Wahrhaftigkeit, der Alltag mag Sinnsuche
sein. Und immer sollte man sich vom Gegenteil überzeugen
lassen.

Gegen die glatte Erzählkunst des Kinos tritt ALLEN mit
seiner Satire, die bisweilen sogar politisch ist, an.
Die Waffenvernarrtheit der Amerikaner“ („natürlich brauchst
du ein Gewehr zur Selbstverteidigung“ empfiehlt er Jerry,
„stell dir vor, es wird eingebrochen während du
masturbierst!“) ist ebenso präsent, wie die Ängste, der
Sicherheitswahn, die Paranoia des Pentagon nach dem
11. September, die Jagd nach dem Terrorismus oder anderer
gesellschaftlicher Probleme.
ALLEN beobachtet seine Stadt New York, die er seit „Manhattan“
nicht mehr aus den Augen verloren hat.
Er lebt von der Nostalgie, der Lebensklugheit und seiner
Beobachtungsfähigkeit.
„Anything Else“ ist Gegenwart, niemals Vergangenheit und
immer Zukunft.

Fazit: Allens Filme sind Vorbilder.
Währen die meisten Hollywood Filme in einer bestimmten
Routine stecken, befreit er sich gekonnt daraus.
Am Ende gibt es immer etwas, was man bei ihm lernt zu
lieben.
Man zwingt sich, sich der Veränderung zu stellen, auch
wenn es oft schmerzhaft ist.

Dietmar Kesten 4.9.04 14:41