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Before Sunset

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Einen festen Platz gib es nicht Dietmar Kesten 19.6.04 13:13

BEFORE SUNSET

EINEN FESTEN PLATZ GIBT ES NICHT

von DIETMAR KESTEN, GELSENKIRCHEN, 19. JUNI 2004.

„Alles im Leben dreht sich im Kreise, nirgends ist Rast oder
Ruh. Du bist im Leben nur auf der Reise- heute und
immerzu.“
Diese Verse aus einem deutschen Schlager der siebziger
Jahre könnte sich als Konfliktstoff über
„Before Sunset“ legen.
Ein Liebesfilm, kein Liebesfilm, ein Film über das
Älterwerden mit der Liebe, ein Film über den uralten
Rhythmus der Wiederkehr der Sehnsüchte?
„Before Sunset“ ist nicht „Before Sunrise“ (Regie:
Richard LINKLATER, 1995) aus dem Jahre 1995.
Und doch ist „Before Sunrise“ „Before Sunset“
(Regie Richard LINKLATER, 2004).
9 Jahre danach gibt es wieder eine Liebesgeschichte,
ein Liebespaar.
LINKLATER zeigt eine zweite Begegnung, ein erneutes
zufälliges Zusammentreffen von Jesse (Ethan HAWKE)
und Celine (Julie DELPY).

Damals hatten sie sich in einem Zug kennen gelernt
und hatten in Wien den Tag und die Nacht gemeinsam
verbracht.
Sie flirteten miteinander, verheißungsvoll, waren voll von
Ideen und Wünschen bis ihre Wege sich trennten,
versprachen sich, sich wiederzusehen.
Fast ein Jahrzehnt später ist man erneut der Innerlichkeit
verpflichtet.
Jesse hat ein Buch über die damaligen Ereignisse in
Wien geschrieben. Seine Tour führt ihn durch Europa.
Am Tag der letzten Lesung in einer Pariser Buchhandlung
sieht er Celine.
Ihnen bleibt nicht viel Zeit; denn Jesse muss zum Flughafen.
In dieser Zeit gilt es, herauszufinden, wie es dem anderen
geht, was man so in der Zwischenzeit erlebt hat.
Die Gespräche, die sich fortan entwickeln, könnten den
eigenen Erlebnissen entliehen sein.
Und vieles entspricht auch den eigenen Erfahrungen, die
man auf dieser Ebene im Laufe des Lebens macht.
Und weil Liebe schier unergründlich ist, und wir uns in
ihrem Sog verzehren, treffen hier persönliche und
allgemeine Liebes- und Lebensräume aufeinander.

Nach einem beginnenden scheuen Anfang, stellen sie fest,
dass sie immer noch tiefe Gefühle füreinander haben.
Manchmal ist unser Hirn ein Labyrinth, manchmal noch
verwickelter als die reale Welt.
Mal scheint es sich aufzubäumen, mal scheint es sich
anzuschmiegen, als sei es auf der Suche nach einem festen
Platz inmitten der mächtigen explodierenden Wirklichkeit.
Die Dialoge, die sich entwickelnde Dynamik, der wechselnde
Tonfall, der zu Anfang noch recht hölzern wirkt- all das wird
von mal zu mal intensiver.
Die dramatischen Geständnisse, die folgen, rufen in Erinnerung,
dass das Herz inmitten dieser zentralen Liebesgeschichte
sitzt und dessen Achse sich permanent umwälzt.

Man gesteht sich gegenseitig ein, dass das Leben nicht das
hält, was es von Anfang an verspricht.
Der Lauf der Dinge ändert sich, auch wenn es banal klingen
mag, die Beziehungen, die Träume, die Ideale.
Es ist merkwürdig: die „Wahrheit scheint im Unverborgenen“
(Martin HEIDEGGER) zu liegen, das man auf einmal sieht,
obwohl es schon immer da war.
Gefühle sind der Kälte nicht gewachsen.
Aus der Perspektive von Jesse und Julie sind sie vielleicht
unerreichbar, unantastbar und doch so vertraut.

Die Zeit vergeht wie im Flug. Auf dem Meer der
Liebesschmerzen kann kein Seefahrer navigieren:
Abendsonne, Bootsfahrt auf der Seine, Taxifahrten,
Streitgespräche um die damalige Situation in
Paris, Jesses Ehe und Celines Männer, schlendern durch
die Gassen. Bleibt noch genügend Zeit? Wofür?
Alle dem Menschen bekannten Gefühle lösen sich im
Laufe des Lebens wieder auf. Man muss viele neue
Erfahrungen machen, neue Gefühle entwickeln, es wieder
lernen, auf zwei Beinen zu stehen.
Die „Leichtigkeit des Seins“ (Milan KUNDERA), oftmals
verspottet, markiert hier den Frontverlauf.
Zurückhaltung ist oftmals ein bisschen Blues, keine
Tränen, aber Girlanden.
So folgt die famose Kamera dieser Begegnung aus eben
dieser Sicht.

Und im Grunde will der Zuschauer auch nicht mehr sehen.
Deswegen ist der Film auch relativ kurz (1 Stunde 20 Minuten).
Und deswegen mag er jene Magie ausstrahlen, die den
oftmals kurzen Sommer von Liebenden bestimmt.
Beinahe unauffällig zieht der Film uns in seinen Bann, in sein
Fahrwasser: gebrochen, umspielt, umspiegelt, verwirrt,
erschüttert.
Bliebe dem Betrachter hier nicht das Licht, wäre der Film
ein farbloses Nichts. Hier staunt man, auch über sich selbst.
Das Feingefühl, oder besser: die höchst greifbaren
Wahrheiten einer Liebschaft, die sich zu entwickeln scheinen,
sind jenseits von Opfertum und Posen, wie man es noch
in der Taschentuchromantik von „Harry und Sally“ (Regie:
Rob REINER, 1989, „Ghost-Nachricht von Sam“ (Regie:
Jerry ZUCKER, 19990 oder „Die Brücken am
Fluss“ (Regie: Clint EASTWOOD, 1995) erleben konnte.

Jesse und Celine sind älter geworden.
Vielleicht liegt es daran, dass mit dem Älterwerden uns
auch Gefühle noch vergänglicher erscheinen, als sie es
ohnehin schon sind.
Denn die Kontinuität in der Liebe, die sich ja ständig auf der
Flucht befindet, wird nicht mehr das, was sie einmal war.
Der Charme verblasst, der Körper wird zu einer
ausgemusterten Anlage, die alte rote Bank wird zu einer
brüchigen Speeerholzplatte.
So bewegen sich die Figuren auf einem schmalen Brett:
mal ist es eine Pappbehausung, man eine gefaltete Wand,
mal eine selbstgebastelte Welt.
Was uns früher half, die Unsicherheiten zu absorbieren,
ihnen zu wiederstehen, gleicht heute Archiven,
Bibliotheken, Kostümläden.

Um die Verletzlichkeit herumgebaut ist der Film,
ohne Hochmut und Arroganz.
Wenn Julie versucht, im Taxi, den Arm um Jesse zu legen
und ihn gleichzeitig wieder scheu zurückzieht, dann
entdeckt man die Seelenverwandtschaften. Es bleibt die
Gewissheit, dass diese Spuren uns immer warmherzig
begleiten werden.
„Before Sunset“ strahlt viel Melancholie aus. Aber ein
Liebesfilm ohne Melancholie ist wie eine kopflose
schwarze Schaufensterpuppe.

Fazit: Vor der Entzauberung sollte niemand Angst haben.
Liebe kommt und geht, sie fragt nicht nach Alter und nicht
nach Stand.
Sie ist Sprengsatz, Spinnengewebe, Ausstellungsstück,
Zubehör, Melodrama, Euphorie, Selbstwahrnehmung.
Hier irgendwo ist sie ehrlich, sentimental und verlogen.
Wenn wir jung sind, gleicht sie einem Füllhorn, das
herrliche Geschenke über uns ausschüttet.
Und sind wir alt, dann liegt milder Sonnenschein auf
ihr.

„Das Leben passiert, während du andere Pläne
schmiedest.“ (John LENNON)

Dietmar Kesten 19.6.04 13:13