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Bloody Sunday

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BLOODY SUNDAY Dietmar Kesten 18.2.06 09:19

BLOODY SUNDAY

MORAL UND MACHT

von DIETMAR KESTEN, GELSENKIRCHEN, 18. FEBRUAR 2006.

„U 2“ sangen 1983 Sunday, Bloody, Sunday“, John LENNON „The Luck of the Irish” (1970/1), Paul McCARTNEY „Give Ireland back to the Irish” (1972). Die Songs wurden allesamt Hits und beschrieben die Ereignisse vom 30. Januar 1972 in (London-)Derry als paramilitärische Einheiten der britischen Fallschirmjäger das Feuer auf eine Gruppe unbewaffneter Demonstranten einer nordirischen Bürgerrechtsbewegung, die sich gegen eine Verfügung der britischen Regierung richtete, ohne vorausgegangene Gerichtsverfahren, Demonstranten festzunehmen, zur Wehr setzte. Dabei wurden mindestens 13 Demonstranten erschossen, 14 schwer verletzt und eine unbekannte Zahl von ihnen verhaftet.

Der „blutige Sonntag“ war eine Zäsur in der Geschichte der nordirischen Freiheitsbewegung, und wenn man so will, die Fortsetzung des bewaffneten Bürgerkrieges, den die IRA (gegründet nach dem gescheiterten Osteraufstand von 1916) ab Anfang der 70er Jahre verschärft aufnahm. Und später zunehmend an Boden gewinnen sollte. Die friedlichen Demonstranten erlebten einen Horrortrip. Irgendwo standen sie alle unter Verdacht mit den Gruppierungen der sogenannten „Hooligans“, wie sie die Briten nannten, zu sympathisieren. Als eine Gruppe Jugendlicher eine Demonstrationsroute verließ, um vor einem britischen Kontrollpunkt ihren Hass gegen die Besatzung herauszuschreien, eskaliert die Situation. Unter bisher ungeklärten Umständen wurde der Demonstrationszug eingekesselt, Scharfschützen auf Dächer und hinter Häuserfassaden postiert, wahllos in die Menge geschossen.

Diese Ereignisse beschreibt der Film „Bloody Sunday“ (Regie: Paul GREENGRASS, 2002), eine Dokumentation, ein Filmdrama, eine (authentische) Biografie mit vielen Augenzeugen, Demonstrationsteilnehmern, Angehörigen der Militärs, der Leitung der Einsatzkräfte, Freunden und Verwandten der Opfer. Road to Derry erzählt von Menschen und ihren Erfahrungen an diesem Tag. Der Film hat ein persönliches Gesicht; denn er ist wahrhaftig. Er zelebriert kein Hollywooddrama, sondern zeigt eine wahre Geschichte. Immer wieder blendet GREENGRASS zurück zu den Personen, die im Mittelpunkt des Geschehens stehen: Mary MOULDS (als Bernadette Devlin), Carmen McCALLION (als Bridget Bond), James NESBITT (als Ivan Cooper) Allan GILDEA (als KevinMcCorry), Gerard CROSSAN (als Eammon McCann).

Der Film entwickelt dabei seine ihm eigene emotionale Spannung, Er beschreibt die Organisation der Demonstration, die inneren Konflikte der handelnden Personen, den minutiös geplanten Aufmarsch des britischen Militärs, den Marsch der Demonstranten durch (London-)Derry, die Kundgebung, die Eskalation. Und schließlich den bewaffneten Überfall auf die Demonstranten. „Bloody Sunday“ sendet Signale aus. Dass die Demonstrationsteilnehmer an diesem Tag um Leib und Leben fürchten mussten, war schon seit Monaten klar; denn die britische Regierung hatte Aufmärsche untersagt und mit Konsequenzen gedroht.

Der Protestant Ivan COOPER und der Katholik Gerry DONAGHY denken über die Zukunft des schwelenden Nordirlandkonflikts nach, über Unabhängigkeit und Gängelung, über ein friedvolles Miteinander beider Parteien, über Macht und Moral. Die erzählenden Figuren schildern ihre Erlebnisse, geben zu Protokoll, was sie an diesem Tag empfunden haben: Männer und Frauen, denen die Unbescholtenheit auf der Stirn geschrieben ist, die ihren stillen Protest durch Selbstbewusstsein zum Ausdruck brachten, die Geschlossenheit demonstrierten und ihre freiheitlichen Werte, die mit zu den wichtigsten Errungenschaften der politischen Kultur überhaupt gehören, kompromisslos gegen alle Widerstände verteidigten.

Diese Bilder bleiben hängen, rütteln auf, machen betroffen. Selbst mehr als 30 Jahre nach diesem Tag sind sie allgegenwärtig; denn der Konflikt zwischen Katholiken und Protestanten schwelt weiter und lässt sich nicht einfach wie Wasser vom Körper abschlagen, befrieden oder kühn verlagern. Toleranz muss erlernt werden, Verteidigung von Werten und freier politischer Meinungsäußerung auch. Der freiheitliche Geist kann nicht zerschossen werden und die Ideen erst recht nicht.

Viele Dramen spielen sich daher nicht einfach auf der Bühne des Theaters ab. Das Leben selbst wird zum Drama, wenn es denn unter der Knute von Unterjochern gelebt wird. „Bloody Sunday“ ist jeden Tag irgendwo auf der Welt. All diese blutigen Sonntage haben dennoch ihr eigenes Gesicht. In einem gleichen sie sich alle: jede Regierung, jede Armee, jede paramilitärische Gruppe, jede terroristische Organisation und alle gedungenen Mörderbanden im globalisierenden Machtkalkül der modernen Warengesellschaft werden, so wie es die britische Regierung getan hat, immer behaupten, gegen Terroristen, Randalierer und Gewalttäter vorgehen zu müssen. Selbst dann, wenn es sich nur um harmlose Kundgebungen handeln sollte. „Bloody Sunday“ ist auch aus diesem Grunde hochaktuell und brisant.

Der Film ist keine Parteinahme für die IRA, auch keine für die britische Besatzungsmacht. Er stellt Fakten Fakten gegenüber. Er rechnet nicht auf und zieht nicht ab. Trotzdem sprechen die Geschehnisse für sich: die Verantwortlichen des britischen Militärs wurden nach dem 30. Januar 1972 nicht zur Rechenschaft gezogen, die Armee entzog sich ihrer Verantwortung. Und die Attentäter auf britischer Seite wurden sogar noch mit Orden dekoriert. Wer diesen Film gesehen hat, begreift, dass dieser Overkill unter immer anderen Vorzeichen sich wie ein Mosaikstück in unserem Alltag zusammensetzen wird.

Fazit:

Schockierend, ergreifend, von Bitternis durchtränkt, emotional, anrührend, authentisch, tränenreich, diskussionswürdig, in bleibender Erinnerung

Dietmar Kesten 18.2.06 09:19