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Das Mädchen mit dem Perlenohrring

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STILLEBEN, LANDSCHAFT, GENREMALEREI Dietmar Kesten 2.10.04 13:55

DAS MÄDCHEN MIT DEM PERLENOHRRING

STILLEBEN, LANDSCHAFT, GENREMALEREI

von DIETMAR KESTEN, GELSENKIRCHEN, 2. OKTOBER 2004.

Die Bedeutung der holländischen Republik
für das Geistesleben in Europa während des 17. Jahrhunderts
kann nicht hoch genug eingeschätzt werden.
Sie war eigentlich das Land, in dem es die Freiheit des Denkens
und des Forschens gab. DESCARTES kam aus Frankreich,
SPINOZA aus Portugal. Dort konnten sie ihre Werke
schreiben und veröffentlichen. Der Aufstand in den
Spanischen Niederlanden hatte erst mit dem Widerstand
der Handelsstädte gegen die spanische
Zentralisierungspolitik Phillips II (1527-1598) begonnen.
Er wurde schnell zum Kampf für religiöse wie bürgerliche Freiheit.
Der spanische Grundsatz, dass „ein König ein Gesetz sei“,
dass „ein König ein Glaube“ sei, hatte zur
unbarmherzigen Verfolgung der Protestanten geführt, die sich
zu Tausenden in die nördlichen Provinzen (nach der
reichsten unter ihnen ‚Holland’) geflüchtet hatten.
Sie hatten Phillip II 1581 die Gefolgschaft aufgekündigt,
und ihre Unabhängigkeit war 1609 anerkannt worden.
Obwohl der Calvinismus als alleinseligmachende
Religion sich durchzusetzen begann, wurden trotzdem andere
religiöse Richtungen wie protestantische geduldet.
Den Juden gewährte man Asyl, die vor der Verfolgung
in Spanien und Portugal in diese Provinzen geflohen waren.
Der Katholizismus, der zwar als feindliche Religion
verboten galt, wurde unterschwellig jedoch geduldet.
Und auch die Freidenker wurden nicht verfolgt.

Die niederländischen Generalstaaten waren ein Staatenbund
(von einzelnen Staaten umgeben), der demokratischer
war als andere nominelle Republiken (etwa Venedig).
In der Außenpolitik waren sie auf Verteidigung bedacht statt
auf Angriff. Ihre Wirtschaft war auf Handel ausgerichtet,
nicht auf Landwirtschaft.
Hugh HONOUR/John FLEMING schrieben dazu:
„Die Aristokratie verließ das Land mit den Spaniern; die
Macht der Fürsten von Oranien, die während des größten
Teils des Jahrhunderts den Titel eines Statthalters
innehatten, war stark eingeschränkt.
Bankiers, Kaufleute, Reeder und Gewerbetreibende
bildeten die Oberschicht und dank ihrer Förderung blühte die
weltliche Malerei auf wie nie zuvor und nirgendwo
sonst.“ (Hugh HONOUR/John FLEMING:
“Weltgeschichte der Kunst”, München 1983.)
Die Malerei wurde zum Aushängeschild der Republik.
Mit der Ausbildung der verschiedenen Kategorien:
Landschaften, Seestücke, Porträts, Genremalerei,
Stillleben brachten die Holländer die Staffelmalerei zu
einem ihrer größten Höhepunkte.
Die europäische Kunst im 17. Jahrhundert fand in
der holländischen Malerei - fast gleichzusetzen mit
einer Revolution - vielleicht sogar den stärksten
Ausdruck.

Die Reihe der Künstler ist lang.
Frans HALS (um 1581/85-1666) gilt im allgemeinen als
Begründer der holländischen Malschule. Auf ihnen gehen
die Porträts zurück (z. B. „Der fröhliche Trinker“ um
1628-1630).
REMBRADT (1609-1669) begann mit Bibelszenen in
drastischen Kompositionen.
Es war sehr aufgeschlossen gegenüber der italienischen
Renaissance, was zu dieser Zeit als Ausnahme galt.
Vermutlich rührte auch seine Art zu malen daher.
Der führende Maler seiner Zeit wurde mit
„Die Nachtwache“ (um 1642) bekannt. Frans HALS begann
mit Gruppenporträts und REMBRANDT machte daraus
ein historisches Spektakel.
Er fügte zahlreiche Einzelporträts zu einer Bildkomposition
zusammen. Seine Figuren hatten Lebensgröße und das
Bild wirkte turmartig, es wurde getragen vom pulsierenden
Leben der Zeit.
Fantastisch war sein Spiel mit Farben. Matte Farben
lösten sich mit leuchtenden Farben ständig ab.
Er arbeitete mit dem Gegensatzpaar von Licht und Schatten,
mit kontrastierenden Bewegungen, die gegen die
Bildebene gerichtet waren, und in über 250 Radierungen,
Zeichnungen und Genremalereien setzte er mit seinen
Figuralkompositionen einen unerreichten Bekanntheitsgrad.

REMBRANDT hatte mit seiner Tiefgründigkeit und
Themenvielfalt (Stilleben) auf alle anderen Künstler einen
wichtigen Einfluss.
Willem KALF (1619-1693) war einer der ersten, der
Gegenstände abbildete.
Seine Kompositionen wurden als „Illusionismus“
(HONOUR/FLEMING) gehandelt.
Er gestaltete in ruhigen Harmonien und Formen,
arbeitete mit grellen Farben und Stoffen, Spiegelungen
und Transparenzen.
Seine Stillebenmalerei setzte Maßstäbe, die sich auch
in der Landschaftsmalerei fortsetzen.
Hier war Jan van GOYEN (1596-1656) einer der Vorreiter.
Land, Wasser, der Himmel- monochrome Bilder waren
sein belebendes Element.
Andere Künstler, wie Aelbert CUOY (1620-1691)
spezialisierten sich auf Meeresthemen.
Ruhige Wasserspiegelungen mit weitem Himmel waren
sein Knotenpunkt mit manchmal düsteren, dann wieder
erhellenden Farben.
Jacob van RUISDAELS (1628/29-1682) erweiterte
diese Themenvielfalt. Seine Landschaften wurden
größer. Neben Ansichten Hollands sah man auch Bilder
der südlichen Provinzen (etwa Geldern und aus
Norddeutschland).

Bei allen holländischen Künstlern wetteiferten
Szenen aus dem häuslichen Alltag mit Landschaften
und Stilleben, die auch das Aufsehen der
Kunstkenner und Kunstliebhaber aus ganz Europa
erregten.
Die Genrebilder waren exakte und detaillierte Darstellungen
einer vertrauten Welt. Sie spiegelten eine pragmatische
Weltanschauung des Mittelstandes.
Für Kaufleute waren sie auch eine Botschaft. Viele
Maler wandten sich mit ihren Bildern moralisierend
gegen ausschweifende Lebensformen.
In unverfänglichen Szenen hielt man den Spiegel vor.
Bemerkenswert waren die Raumdarstellungen und
das Raumgefühlt.
Hier fällt dann auch Johannes VERMEER (1632-1675) auf.

Er kann durchaus als „Spezialist des Genres“
(HONOUR/FLEMING) bezeichnet werden.
Er malte gemessen an seinen Vorgängern wenig.
Überliefert sind nur ca. 35 Bilder.
Er unterschied sich von seinen Zeitgenossen
dadurch, dass er die damalige Farbenkultur
sozusagen revolutionierte. Seine empfindsame
Wiedergabe von Licht und Schatten bestachen
in der starken Leuchtkraft seiner Gemälde.
Aus der Beobachtung heraus kreierte er
die Feinheiten und die sich gegenseitig durchdringenden
Farben (vgl. auch „Die Weinprobe“).
Als einzigartig galt seine Methode, funkelndes Licht
in winzigen perlartigen Punkten einzufangen, die
über „Umrisslinien von Gegenständen hinausgingen“
(HONOUR/FLEMING).
Das bekannteste Bild von VERMEER ist
„Das Mädchen mit dem Perlenohrring“ (ca. 1665).

Dieses Gemälde dient als Hintergrund des
Films „Das Mädchen mit dem Perlenohrring“.
Das Gemälde selbst liegt im Dunkeln, wie auch das
Leben des Künstlers.
Auch konnte die Identität der dargestellten Frau bis
heute nicht eindeutig geklärt werden.
Möglich ist ein Bezug zu Frankreich; denn der
französische Einfluss der Kunst in den Niederlanden
dürfte auch VERMEER zu seiner Zeit nicht
unbekannt gewesen sein.
Die Inspiration durch ein Hausmädchen dürfte
indes als unstrittig gelten, die dem Künstler Modell saß.
Der Film ist eine Hommage an die holländische Malerei
des 17. Jahrhunderts, eine gelungene Studie über das Leben
in dieser Zeit, ein wunderschöner Blick in das barocke
Delft.

Unter der Regie von Peter WEBBER („The Zebra Man“, 1996)
entstand ein einmaliges Werk, dass die dramatische Handlung
gelungen visuell umsetzt.
Das Mädchen Griet (Scarlett JOHANNSON) muss nach der
Erblindung des Vaters für das Familieneinkommen sorgen.
Sie verdingt sich bei der Familie VERMEER als einfache
Dienstmagd.
Dort herrscht eine düstere Stimmung, die noch zusätzlich
durch das Auftauchen von Griet erheblich ungemütlicher wird.
VERMEER (Colin FIRTH) der malt, um seine Familie über
Wasser zu halten, gerät in ständige Konflikte mit dem Rest
seiner Familie. Catharina (Essie DAVIS) leidet unter dem
mürrischen Gemüt von Jan. Auch die Schwiegermutter
Maria Thins (Judy PARFITT) und der Patron
van Ruijven (Tom WILKSINSON) tragen dazu bei,
dass die Freuden im Hause rar gesät sind.

Schon bald erregt Griet die Aufmerksamkeit von
Johannes, der sie verzaubert.
Der Perfektionist erkennt nach und nach, dass ihre
großen Kinderaugen, das hübsche Gesicht, die
vollendeten Lippen geradezu herausfordern für eine
Gemälde sind.
Sie weist ihn zunächst ab. Bald aber teilen sie die
gemeinsame Leidenschaft, die Malerei.
Im Laufe ihrer Zeit als Hausmagd fasst sie Vertrauen
zu VERMEER, der sie die teuren Farben mischen
lässt, in seinem Atelier schlafen darf und ihm später
Modell steht.
Hier beginnt ein eigenartiges Vertrauensverhältnis,
dass sowohl einen Blick in die Faszination der
Malerei und die Biografie des Künstlers gewährt.

Ob hier biografischen Einzelheiten stimmig sind,
ist eigentlich unerheblich.
Darauf baut der Film auch nicht auf. Er will die
Stationen des Gemäldes „Das Mädchen mit dem
Perlenohrring“ nachzeichnen. Und das gelingt
Ihm ohne Frage.
Behutsam entwickelt er Schritt für Schritt die Bilder
für das Bild.
Im Atelier putzt Griet die Fenster und entdeckt dabei
die erste Station: sie öffnet die Fenster und trägt zur
Lichtentfaltung bei.
Als VERMEER eine Schaffenskrise hat, lässt er sie
durch ein geöffnetes Fenster zum Himmel aufschauen.
Dadurch bekommt er die Inspiration für die Farben,
die er in seinem Gemälde verarbeitet.
Diese zweite Station erfährt abermals eine Wendung.
Als sich Griet an einem Fenster zu schaffen macht,
beobachtet sie Vermeer und lässt sie innehalten.
Daraus entsteht die dritte Station. Griet sitzt auf einem
Hocker am Fenster und dreht ihren Kopf mit
halbgeöffnetem Mund zu Vermeer.
Sie sitzt ihm so Modell.

Doch nicht das allein verleiht dem Film seine
Faszination.
Wenn die Kamera durch Delft wandert, dann ist das so,
als ob für einen Augenblick die Zeit im 17. Jahrhundert
stehen bleibt.
Prächtig sind die Grachten, die Märkte, die Brücken,
die Betriebsamkeit der Schauplätze, die Straßen im
halbdunkeln, das geißelende Licht. All das, was wir von den
Bildern kennen, spiegelt sich außerordentlich gut gefilmt
in „Das Mädchen mit dem Perlenohrring“ wider.
Das Gemälde ist ein Hohelied auf die Zeit, ein Zeitgemälde,
ein Filmgemälde, ein Gemälde der Realität.
Das dunkle Atelier, die Entstehung der Farbkompositionen,
die Kostüme, das Dekor, all das wirkt passend und
ist zugeschnitten auf die beiden Hauptdarsteller.

Hier atmet jede Einstellung die Kunst Vermeers, vor allem
die Besonderheiten.
Licht gehört mit zu einer Besonderheit. Künstliches Licht
und Tageslicht, abgedunkeltes Licht und Dunkelheit.
Hier wechseln beständig die Lichtverhältnisse.
Sie reflektieren und werden reflektiert.
Der Kunstfilm ist gleichzeitig eine sensible Studie über
das Leben in dieser Zeit mit der Liebe, über die
Untertöne der Liebe, über erotische Gefühle, über die
Zurückhaltung, die sich in Griet (hervorragend:
Scarlett JOHANNSON) widerspiegelt.
Faszinierend schaut man auf sie, die nur mit ihrem
äußerlichen Reiz, der beständig durch die Haube verdeckt
ist, Vermeer aus der Fassung bringt.
Nur einmal, als er ihr die Ohrringe ansteckt und dabei
die Haube durch ein Band ersetzt, entblößt sie
ihre Schönheit für einen Augenblick.
Griet bewegt sich anmutig. Ohne großartig aufzufallen,
oder gerade deswegen, gibt sie mit ihrer Natürlichkeit
zu erkennen, dass der verborgene Reiz erotischer
sein kann als jede Offensichtlichkeit.

Je länger man Griet bei ihrer alltäglichen Verrichtung
zusieht, umso eindrucksvoller hinterlässt sie beim
Zuschauer das Gefühl eines Blicks in ihr Innenleben.
„Sie haben mich entblößt“ sagt sie zu Vermeer.
Und nicht zu unrecht.
Denn die introvertierte Griet muss erst erweckt werden,
bevor sie sich jemandem anvertraut.
Die wenigen Andeutungen und kaum aufgetragen
wirkende Dialoge lassen ein Meisterwerk entstehen.
Fern ab von allen historischen Filmen gewährt
WEBBER einen tiefe Charakterzeichnung in das
von Emotionen gezeichnete Innenleben.
Die Geschichte zeigt uns eine penible Milieustudie,
die zur Augenweide wird.
„Das Mädchen mit dem Perlenohrring“ wird auf
seine Weise zu einem Highlight des Jahres.

Fazit: Eine Hommage auf die Kunst, den Künstler,
das Mädchen, auf Delft, auf die Malerei.
Hier werden keine Zugeständnisse gemacht.
Entweder man ist Kunstfreund, oder Kunstfeind.
Doch für beide Seiten hält der Film, was er auch
verspricht: die wunderschöne Griet als Originalgemälde.

Dietmar Kesten 2.10.04 13:55