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Der Untergang

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ANMERKUNGEN ZU EINEM FILM Dietmar Kesten 17.9.04 21:02
DER ALLTÄGLICHE RASSISMUS Dietmar Kesten 10.10.04 10:38

INTOLERANZ UND DER ALLTÄGLICHE RASSISMUS

von DIETMAR KESTEN, GELSENKIRCHEN, SEPTEMBER 2002.

TEIL I

Vorbemerkung des Verfasser (9. Oktober 2004):

Ein Jahr nach den verheerenden Anschlägen auf die
Weltzentren der Weltgesellschaft hatte ich eine lose
Artikelfolge über den alltäglichen Rassismus geschrieben.
Der Film „Der Untergang“ hatte mich in meiner Auffassung
bestärkt. HITLER geistert als Übergröße immer noch in
uns herum. Die eigentliche Crux ist nicht der Film selbst,
sondern vielmehr die Eigenart, sich mit der Thematik des
Dritten Reiches zu beschäftigen. Die enorme
Bandbreite des menschlichen Elends, das der zweite
imperialistische Krieg hervorgerufen hatte, klammert
der Film aus. Ebenso den größten geschichtlichen
Massenmord, den Holocaust.
Der eliminatorische Holocaust konnte nur durch massenhafte
Helfer der Deutschen geschehen, ebenso „wie die
Verfolgung und Tötung von Angehörigen anderer
Opfergruppen, der Geisteskranken, der Roma und
Sinti (gewöhnlich Zigeuner genannt), der Homosexuellen,
der ‚Asozialen’, der Polen, Russen und anderer“.
(Daniel Jonah GOLDHAGEN: „Die katholische Kirche
und der Holocaust“, Berlin 2002).
Mit der Frage nach der moralischen Schuld der Deutschen
an diesen Verbrechen hatten sich nach 1945 viele
Literaten, Philosophen, Politiker und führende
Persönlichkeiten der Kirchen beschäftigt.
Der Philosoph Karl JASPERS hatte sich in seinem Buch
„Die Schuldfrage: Zur politischen Haftung Deutschlands“
(Heidelberg 1946) deutlich geäußert:
„Angesichts der Verbrechen, die im Namen des deutschen
Reiches verübt worden sind, wird jeder Deutsche mitverantwortlich
gemacht. Wir haften kollektiv.
Die Frage ist, in welchem Sinn jeder von uns sich
mitverantwortlich fühlen muss. Zweifellos in dem politischen
Sinne der Mithaftung jedes Staatsangehörigen für die Handlungen,
die der Staat begeht, dem er angehört.
Darum aber nicht notwendig auch in dem moralischen Sinne
der faktischen oder intellektuellen Beteiligung an den
Verbrechen. Sollen wir Deutsche für die Untaten, die uns von
Deutschen zugefügt wurden, oder denen wir wie durch ein
Wunder entgangen sind, haftbar gemacht werden? Ja, ? sofern wir
geduldet haben, dass ein solches Regime bei uns entstanden
ist. Nein ? sofern viele von uns in ihrem innersten Wesen Gegner
all dieses Bösen waren und durch keine Tat und durch keine
Motivation in, sich eine moralische Mitschuld anzuerkennen
brauchen. Haftbarmachen heißt nicht als moralisch
schuldig erkennen.“
Der Zauber, der erloschen schien und mit ihm die Debatte
über Schuld oder Nichtschuld, verdrängte und ewig
bleibende Schuld, über Moralität und Sühne,
Vergangenheitsbewältigung und Verdrängung,
Vergessen und Vergegenwärtigung, bekommt, wie ich
meine, nun wieder eine eigenartige Dimension.
Der braune Spuk hat mit den Wahlerfolgen
Rechtsradikaler, Nationalisten und nationaldemokratischer
Organisationen im Osten der Republik
aufhorchen lassen. Er bricht aber nun keineswegs
urplötzlich herein, sondern ist latente Begleiterscheinung
der westlichen Demokratien.
Es geht um Ideologie, um das Zusammenspiel von
Geist und Macht, das zweimal im letzten Jahrhundert
im Wahn geendet hat.
Es geht um Denkstrukturen und Verhaltensmuster,
die sich auch gar nicht in Wahlerfolgen niederschlagen
müssen. Es geht um Mechanismen und
Eindimensionalität, um das Verhalten der Deutschen
in den alltäglichen Alltagssituationen.
Der nachfolgende I. Teil eines kleines Aufsatzes
könnte helfen, die im Film „Der Untergang“
völlig unzureichend angesprochenen Fragen
zu vertiefen.

„Immer reden wir über Intoleranz, weil es schicklich ist, ein
solch großes Wort im Alltag zu benutzen, weil es aktuell ist,
darüber zu reden, und weil sie weitgehend den Charakter
vieler Menschen zu bestimmen scheint. Wir reden über sie,
so wie man gemeinhin z. B. über Traditionalismus,
Konservatismus, Rassismus oder Nationalismus redet,
nur mit dem Unterschied, dass die Intoleranz bei genauerem
Hinsehen viel tiefer geht und noch gefährlicher als etwa
Konservatismus, Rassismus oder Nationalismus ist.
Es gibt kaum eine Sitte, eine Verhaltensbereitschaft, eine
Vorschrift im Sozialisationsprozess, die sich nicht in
fehlgeleiteten Meinungen niederschlägt.
Beobachtbar ist, dass sich die Menschen in der Moderne den
jeweiligen gesellschaftlichen Anforderungen ohne zu Zögern
anpassen, und dass der Druck der ökonomischen Zwänge
eine allseitige Feindseligkeit auf deren individuelles Verhalten
hervorgerufen hat. Gemeinhin wird diese Verhaltensweise
intolerant genannt.

Was ist aber nun Intoleranz?
Zum einen gibt es Formen nichtrassistischer Intoleranz, die
Intoleranz gegenüber Gläubigen oder die Intoleranz von Diktaturen
gegenüber politisch Oppositionellen.
Diese Beispiele demonstrieren, dass es sich bei ihr um etwas
viel Ursprünglicheres handelt, das sich an der Wurzel von höchst
unterschiedlichen Phänomenen befindet.
Im Kontrast dazu sind etwa Traditionalismus oder
Rassismus theoretische oder ideologische Positionen, die eine
Lehre voraussetzen.
Die Intoleranz befindet sich jenseits dieser Lehren. Man könnte
sagen, dass sie sogar deshalb biologische Wurzeln hat.
Sie zeigt sich etwa im Tierreich im Kampf um Territorien. Sie gründet
sich auf gefühlsmäßige, häufig oberflächliche - und deshalb gerade
so gefährliche Reaktionen.

Man mag in Deutschland den Andersartigen nicht, weil jemand eine
andere Hautfarbe hat, weil er eine Sprache spricht, die wir nicht
verstehen, weil er Speisen zu sich nimmt, die unsere Abneigung
hervorrufen und /oder weil er sich tätowieren lässt, lesbisch oder
schwul ist. Die Intoleranz gegenüber dem Andersartigen ist beim
Kind als Instinkt angelegt, sich das anzueignen, was man liebt.
Die Toleranz dagegen ist nicht angeboren. Zur Toleranz muss man
erzogen werden, und zwar ein Leben lang, zumal wir ständig der
Boshaftigkeit des Andersartigen und auch dieses Denkens
ausgesetzt sind.
Ein warnendes Beispiel dürfte für alle Zeiten die bürgerliche Familie
sein, die nicht nur Hort der Unterdrückung ist, sondern in der sich
die ständig wiederholenden intoleranten Katastrophen im Umgang mit
Kindern und Partnern zeigen.

Sozialforscher beschäftigen sich gewöhnlich mit den Doktrinen der
Andersartigkeit, aber sie beschäftigen sich nicht genug und ausführlich
mit der primitiven, der alltäglichen, immerfortwährenden in uns
vorhandenen Intoleranz, die uns täglich begegnet, überall präsent
ist und mit Macht unser gesellschaftliches Leben zu durchdringen
scheint.
Es gibt keine Doktrinen der Andersartigkeit, die diese Form der
alltäglichen Intoleranz hervorbrächte.
Vielmehr verhält es sich genau umgekehrt. Der Bodensatz diffuser
Intoleranz wird für Doktrinen verwandt. Die Hexenjagden, das
Verbrennen auf Scheiterhaufen, das Teeren und Federn, sind keine
Phänomene dunkler mittelalterlicher Epochen, sondern zu
beobachtende Realitäten in der Moderne.
Erklärungen, warum die moderne Welt theoretische Begründungen
für Hexenjagden gefunden hat, gibt es vermutlich viele.
Beschränken wir uns darauf, daran zu erinnern, das dass
Durchsetzungsvermögen dieser Lehre auch darauf basieren
konnte, weil es bereits volkstümliche Abneigungen gegenüber
Hexen gegeben hatte, die sich von der Antike bis zu
Thomas von AQUIN, über LUTHER und der großen Kirchen
zurückverfolgen lässt.

Ähnlich verhält es sich mit dem sog. ‚wissenschaftlichen
Antisemitismus’, der im 19. Jahrhundert aufkam und der
im 20. Jahrhundert in eine totalitäre Anthropologie und
schließlich in den industriellen Völkermord einmündete.
Die Erfindung dieses massenmörderischen „eliminatorischen
Antisemitismus (Daniel Jonah GOLDHAGEN) wäre aber
nicht denkbar ohne die antijüdische Polemik der Kirchenväter,
oder die Jahrhundertalte Tradition des ‚volkstümlichen
Antisemitismus’, der überall dort vorherrschte, wo es
z. B. Ghettos gab (vgl. auch: John WEISS:
„Der lange Weg zum Holocaust“, Hamburg 1997).
Die antijakobinischen Theorien, die zu Beginn des
20. Jahrhunderts von einem 'jüdischen Komplott' raunten,
beuteten insofern nur einen Hass aus, der bereits vorhanden
war.

Die gefährlichste, weil gedanklich verdrängte, ist immer die,
die ohne Lehre aus elementaren Impulsen entsteht.
Deshalb kann sie auch so schwer ausgemacht werden und ihr ist
kaum mit rationalen Argumenten zu begegnen.
Der theoretisch verbrämte Rassismus, den HITLER in
„Mein Kampf“ begründete, kann mit einer Reihe einfacher
Einwände widerlegt werden.
Wenn er dennoch bis heute überdauert hat und unbeschadet
aller Einwände und Erfahrungen weiter lebt, dann deshalb,
weil er sich auf eine in uns stetig vorhandene und nahezu
erbsündenhafte Übertragung von einer Generation zur anderen
stützen kann, die sich jeder Kritik zu entziehen vermag,

Die alltägliche Intoleranz, die beobachtbare, die unter uns umgeht,
Tag für Tag an Boden gewinnt, ist deshalb so gefährlich, weil sie
sich einer Reihe von Kurzschlüssen bedient, die einem künftigen
Rassismus oder extremen Nationalismus Nahrung geben könnten.
Die derzeitigen Debatten um politisch Verfolgte oder Asylanten in
Deutschland erinnern sicher auch an die bekannte Formen der
Gängelung der Andersartigkeit durch den nationalsozialistischen
Totalitarismus, wenn auch ein Staat, der diese Frage mit
antidemokratischen Bestrebungen versucht zu lösen, nicht automatisch
rassistisch ist.
Wenn von den politischen Verfolgten, die aufgenommen werden,
oder den Asylanten, die abgeschoben werden, einige Kriminelle
oder Prostituierte darunter sind, sind deshalb alle politisch
Verfolgten oder abgeschobene Asylanten potentielle Kriminelle
oder Prostituierte?

Es handelt sich dabei um einen dermaßen groben Kurzschluss,
der um so schrecklicher zu beobachten ist, weil wir alle nicht vor
ihm gefeit sind.
Es genügt doch, dass einem die Brieftasche in einem Land, in dem
wir gerade Urlaub machen, geklaut wird, und schon wird behauptet,
dass man seinen Bewohnern nicht trauen könnte.
Es reicht immer noch aus, dass Messerstechereien Türken,
Albanern, Polen oder sonst wem angelastet werden. Und
noch immer begegnen wir der kulturellen Andersartigkeit mit
Häme, Spott, Unverständnis, Chauvinismus und Abkehr.
Und das im säkularisierten Abendland, wo man anscheinend in den
letzten 2000 Jahren die 'Ruhe des Tempels' mit dem Hass auf die
Fremdheit verteidigt hat.

Eine der schlimmsten Formen der alltäglichen Intoleranz, ist die
des Wegsehens und die des direkt Beobachtbaren. Vergewaltigungen
in S-Bahnen, brutale, rassistische Überfälle auf Ausländerheime,
in Bussen, Übergriffe auf Alte und Schwache, Schlägereien
wegen Nichtigkeiten, Raub und Mord vor unser aller Augen- bei all
dem bleiben wir auffallend passiv. Wir zeigen scheinbar keinerlei
Gefühle. Wir greifen nicht ein, niemand ist bereit zu helfen.
Zivilcourage ist ein Fremdwort geworden.
Jede Einmischung bei diesen Taten erscheint unangebracht. Und
offene Gewalttaten veranlassen niemanden dazu, einzugreifen.
Wie kalt muss eine Gesellschaft geworden sein, die derartige
Verwilderungen ignorieren kann?
Ist es nur Unsicherheit über das Ereignis, das zum Wegschauen
animiert, oder tatsächlich der Verfall der Moralität, der die
Gesellschaft schon wie ein krankes Geschwür umgibt?
Je unsicherer eine Lage wird, in der unmittelbares Eingreifen
notwendig wäre, desto unwahrscheinlicher die Hilfe. Leider ist unser
Denkvermögen in einer solchen (oder ähnlichen!) Situation bereits
soweit erodiert, dass es selbst da, wo offensichtlich Menschen
misshandelt, gequält und/oder gedemütigt werden, sie
verschiedenster Gefahren ausgesetzt sind nicht zu Hilfen kommt.
Das kommt dem Wunsch sehr entgegen: es möge bitte keine
Gewalttat sein, die zum entschiedenen Handeln zwingt.
Und sie verführt (leider!) dazu, sich auf andere zu verlassen.
Am Ende liegt der Hilflose (es handelt sich ja nur um einen
Betrunkenen!) in seinem Blut auf der Straße und
niemand greift ein.“

Dietmar Kesten 10.10.04 10:38