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Land of Plenty

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MOMENTE DES TÄGLICHEN LEBENS Dietmar Kesten 16.10.04 12:43
MOMENTE DES TÄGLICHEN LEBENS arbeitsloser 26.10.04 15:12
MOMENTE DES TÄGLICHEN LEBENS Dietmar Kesten 2.11.04 14:04

LAND OF PLENTY

MOMENTE DES TÄGLICHEN LEBENS

von DIETMAR KESTEN, GELSENKIRCHEN, 16. OKTOBER 2004.

An Wim WENDERS beeindruckt, dass es ihm ohne
platte Kritik gelingt, ohne politische Botschaften und ohne
jegliche Schadenfreude, einen Film vorzulegen, der aus
seiner Sicht über Amerika nach dem 11. September 2001
handelt. WENDERS rückt den Alltag in den Staaten in
den Mittelpunkt. Er machte einen Film über Verunsicherung,
Sicherheitsbedürfnis, Sicherheitswahn, über die neue
Armut in den USA.
Der Film handelt von all denjenigen Dingen, die ihm an
Amerika Sorgen bereiten.
Man kann das in die Schlagworte fassen: „Armut, Paranoia
und Patriotismus“. („Der Filmspiegel“, 10/2004).
Der Film spielt in Los Angeles. Dort, wo WENDERS seit
Jahren lebt setzt er seinen Film in Szene.
Mit einer raum-zeitlichen Selbstständigkeit erzählt er von
seinen Hauptfiguren. Vom Vietnamveteranen
Paul (John DIEHL), einem kaputten Typen, kettenrauchend
und mit einem langen Nachkriegstrauma, der an Paranoia
leidet und hinter jedem Bart, hinter jedem Araber, hinter jedem
Turban und Fremden einen potenziellen Terroristen vermutet,
und der auf eigene Faust auf Terroristenjagd geht.
Seine zweite Hauptfigur ist seine Nichte Lana (Michelle WILLIAMS).
Sie, eine christliche Missionarin, jung und süß, und die gerade
aus dem Nahen Osten zurückkommt, kümmert sich karitativ um
Obdachlose und Einwanderer in Los Angeles.
Menschen empfindet sie im Gegensatz zu Paul
nicht als etwas Bedrohendes.
Zwei unterschiedliche Charaktere stehen hier im Mittelpunkt,
die gemischte und unterschiedliche Gefühle für Amerika
entwickeln und auszudrücken vermögen. Sie begeben sich
auf Spurensuche. Als ein obdachloser Araber auf offener
Straße erschossen wird, setzt die zerstörerische Spirale
voller Angst, voller Trauer über den Verlust von
Menschen, Werten, Lebensgefühl, vom Wandel der
Gerechtigkeit in Ungerechtigkeit in die scheinbar alles umfassende
Selbstgerechtigkeit und die Verlorenheit ein, die Verlogenheit von
Menschen in einem komplexen und omnipräsenten
globalisierenden Kapitalismus.

Wim WENDERS Filme sind Meilensteine der Filmgeschichte
Zu bewundern sind vor allem „Paris, Texas“ (1984),
„Der Himmel über Berlin“ (1986/87), „Bis ans Ende der
Welt“ (1991), „In weiter Ferne, so nah“ (1993),
„Am Ende der Gewalt“ (1997), „Buena Vista Social Club“ (1999),
„The Million Dollar Hotel“ (1999),
“Ten Minutes Older - The Trumpet” (2002),
“Viel passiert - Der BAP-Film” (2002),
„The Soul of A Man“ (2003).
Bei WENDERS wird man das Gefühl nicht los, dass er immer
auf der Reise ist. Seine Filme werden durch einzigartige
Komposition miteinander verbunden. Er deutet an, versucht zu
erklären, ist dramatisch, seine Hand ordnet. Er ist von
Wirklichkeitsnähe umfasst und vermittelt bis zu einem
gewissen Grade den Eindruck des wirklichen Lebens.
Denkt man etwa an „Der Himmel über Berlin“, „Bis ans Ende
der Welt“ oder am „Ende der Gewalt“, dann wird deutlich, dass
es ihm um die abgerissenen Stationen im Leben geht,
um eine gewisse Naturhaftigkeit, die es gilt, zu entkleiden.
Manchmal scheint es so, als ob er immer die gleichen
Situationen filmt, die zugleich reale Schauplätze sind.
Seine Filme sind gleichermaßen Schaukasten und
Bühnen-Raum, wo man Bilder betrachten und sich Gedanken
machen kann.
In seinen dramatischen Momenten ist das zeitliche
Nebeneinander der Szenen besonders erwähnenswert,
da erst sie Handlungsinhalte und Kausalität vermitteln.

WENDERS Filme sind gigantische Reisen, Road-Movies,
Abenteuer, Musik- Liebesfilme, die insgesamt
Zweischneidigkeiten zu sein scheinen. Das eigentliche zentrale
Thema ist seine Suche nach den verlorenen Bildern, quasi
eine Sucht, sie geschlossen wiederzugeben (vgl. „Paris-Texas“).
An der Verarbeitung seiner zentralen Motive fasziniert seine
Anteilnahme am Schicksal der Figuren.
Sie sind es, die seinen Filmen eine wahre Authentizität
verleihen. Sie sind es, die das Licht in die Welt zurückgeben.
Sie sind das Werk seines Lebens.
Kein anderer Künstler kann Stimmungen in Bilder besser
einfassen als WENDERS.
Landschaft, Stille, Licht, Menschen, Blicke, Bewegungen,
Begegnungen filmt er wie im Rausch. Er verzaubert einsame
Plätze und macht daraus blühende Landschaften.
Seine Städte sind Illusionen und Wirklichkeit (vgl. „Der Himmel
über Berlin“). Seine Blicke aus Fenstern oder Zügen sind
Visionen und Träume (vgl. „The Million Dollar Hotel“).

Wim WENDERS Filme sind auch Geheimnisse,
wahre Botschaften und krude Identitäten. Mit ihm auf die
Reise zu gehen, bedeutet, sich in einer Kreisbewegung
zu befinden. Man kehrt zum Schluss seiner Filme immer
wieder zum Ausgangspunkt zurück (vgl. „The Soul o
A Man“).
Manche Filme sind schwer zu verstehen, da er mit
Verklärungen arbeitet, mit Mythen, Irrationalitäten,
Transzendenz und religiösen Vereinfachungen.
(vgl. „Der Himmel über Berlin“). Letztere sind wie in
„Land of Plenty“ allerdings zu sehr mit Religiosität
überfrachtet.
Engel sind hier unsichtbar für die Augen der Menschen.
Sie verspüren die Sucht, an ihrem Leben teilzuhaben,
selbst als Mensch Mensch-Sein zu erfahren.
Anders herum möchten Menschen wie Engel sein und
ihre Sphäre kennen lernen, sich neu zu arrangieren und
die Welt und die Menschen neu zu sehen.
Mit einer neuen Sinnlichkeit, mit neuen Gedanken, mit
einem neuen Lebensgefühl.
Und nicht nur im „Himmel über Berlin“ geht es um die
irdische Begrenztheit des menschlichen Lebens.
Auch in „Am Ende der Gewalt“ ist es der plötzlich
hereinbrechende physische Niedergang, der auf das
alltägliche Leben trifft.
Ohne Ideologie, die für ihn Etikettenschwindel ist, und
ungeachtet aller Theorien über die Welt, sagt er in einfachen
und klaren Worten, dass die Welt, in der wir leben, mit
Trümmern übersät ist, dass es keine Ganzheit dieser Welt
mehr gibt, sondern dass sie aus Fetzen von Zufallsereignissen
besteht, in denen wir uns zurechtfinden müssen, um das
Leben mit Zwischenräumen zu füllen, sozusagen fragmentarische
Realitäten.

So steht man „Land of Plenty“ gegenüber.
Einem Film, der irgendwo den Geist von Marcel PROUST atmet,
James JOYCE, Virginia WOOLF und Robert MUSIL.
Man sieht einen Film, der an „September“ (Regie:
Max FÄRBERBÖCK, 2002) erinnert, an „11-09-2001“
(Regie: Alejandro INARRITUA/Danis TANAVIC u. a., 2002),
einen Film, der versucht, diese Ereignisse zu illustrieren,
der versucht darzustellen, dass der Mensch ein Ganzes ist,
und dass es unmöglich ist, einen Menschen zu
kennen, wenn man sich selbst nicht kennt.
Wenn man sich verändert, dann im Dienste eines Aufbruchs,
der die zusammenhängenden Aspekte und Ideen der globalen
Welt zu begreifen beginnt.
Der Film macht sichtbar, was kaum zu sehen ist. So merkwürdig
es klingen mag. Straßen, Menschen, Gesichter und Landschaften
bleiben unsichtbar, wenn es nicht gelingt, die Bilder
mit den Geschehnisse zu identifizieren.
Paul, der observiert, der mit einem Überwachungswagen, der
mit dem neusten technischen Standard ausgestattet ist, und
der stets auf der Suche nach dem, was seinem Land gefährlich
werden könnte ist, dieser Paul ist Rohmaterial, weil er halb-unsichtbar
und paranoid agiert.
Aber aus ihm brechen die Momente des täglichen Lebens
hervor. Die Elendsviertel, das Los Angeles von Wim WENDERS
ist seine Heimat.

Der gespaltene Paul läuft wie der Film in zwei
entgegengesetzte Richtungen: Paul liebt als Patriot sein Land
und hasst es zugleich.
Man könnte auch sagen, dass WENDERS hier
anfängt zwei Geschichten mit einer zu verschmelzen.
Denkt man an Lana, dann denkt man an Claire oder
Sam aus „Bis ans Ende der Welt“.
Mit dramatischem Kalkül und der puren Lust an der
Erzählung konzentriert sich WENDERS auf das, was
ihm wichtig ist: Amerika!
Paul kann hier die Widersprüche, die in ihm stecken,
ohne Probleme auf WENDERS übertragen, oder
WENDERS überträgt diese auf ihn.
Der Mythos Amerika ist ebenso präsent wie seine Mission,
Perspektive und Bilderschatz.
Amerika ist stolz, Realität, Gefühl, Sehnsucht
Melancholie. Ist „Land of Plenty“ ein Film über
Davongekommene nach dem 11. September?

Die Geschichte ist sehr bitter, wenig tröstlich und trüb.
Das ‚American way of life’ ist Schicksal, allgegenwärtige
Instanz, gleichgültig und gleichmütig. Es ist geordnet und
ungeordnet, es ist hinter einer mehr entrückenden
Wirklichkeit entschwunden.
„Land of Plenty“ ist ein Blick auf Armut und Gewalt.
Wir erhaschen eindrucksvolle Stimmungsbilder
auf den Ground Zero und lauschen stumm den Worten
Lanas „Lass uns still sein, vielleicht hören sie uns.“
„Bis ans Ende der Welt“- daran hatte WENDERS gute
4 Jahre gearbeitet.
Man durchlebte eine erschauerliche und wunderbare
Amnesie.
Jetzt sollte man Realist werden und bleiben.
Vergesst die Mythen und Märchen des deutschen Films,
die nun wieder mit GANZ, RIEMANN, BLEIBTREU, KNAUP,
STADTLOBER, KROL, SCHWEIGER, POTENTE und anderen
durch die Kinos hetzen.
Das Debakel des deutschen Films hat jetzt auf der
Leinwand ein Ende gefunden.
Mit WENDERS beginnt der Sinn einer langen Filmreise.
Nach dem Tod von Rainer Werner FASSBINDER
begreift man, dass WENDERS von seinem großen
Vorbild gelernt hat.
Vielleicht gibt es hier nichts mehr vergleichbares mehr?
„Bis ans Ende der Welt“ ist „Paris-Texas“ und beide sind
„Land of Plenty!
Die Aufbrüche, hier schwärmerisch, dort verklärerisch
beginnen. Es sind die Verwandlungen, Aufbrüche ins
Ungewisse, ein Triumph des Films über den Profit.
Die Wurzeln des Films liegen in der Vergangenheit,
sie fangen dort bei FASSBINDER an und hören bei
WENDERS in der Zukunft auf.

So auch die Begegnung mit Lana.
Paul, der überall um ihn herum die Bomben ticken
hört, der sich überall dem Terror gegenüber sieht, begegnet
der schlichten Frau, die aus Tel Aviv zurückkehrend,
in Armenküchen aushilft.
Als ein angeblich Verdächtiger erschossen wird,
beginnt die eigentliche Spurensuche.
Paul und Lana sind wie zwei Tänzer, die sich nicht im
gleichen Takt bewegen. Der eine wittert hier die Gefahren,
die durch den Terrorismus drohen, ein Mordkomplott,
und Illuminaten, die andere möchte die Last von dieser
Geschichte befreien und möchte nicht wahrhaben, dass man
so kalt sein kann und sich nicht für Obdachlose
interessiert.
Der Film bringt zusammen, was sich nicht unbedingt
zusammen bringen lässt. Und doch bringt er
WENDERS zurück. Dorthin, wohin er gehört: nach
Deutschland. Es ist die Rückkehr zu seinen Wurzeln,
eine eher zweifelnde Rückkehr, doch die vielen
WENDERS Gesichter beginnen, sich zu einem Gruppenbild
zu vereinigen.
Dem zufolge muss „Land of Plenty“ die Alte und die Neue
Welt vereinigen und beide schließlich an einem festen Ort
verankern. Mit dem Leichnam des Ermordeten werden die
Orte, Familienbande, Kindheit und Jugend als
Gedankenstriche in sich verschachtelt sind dargestellt.
Trona, das Ziel der Reise- ist das der Ort, an dem die Menschen
die Orte ihrer Kindheit wiederfinden und sich auf das kommende
Leben vorbereiten?
Während eine alte Frau verzweifelt versucht, die Programme des
Fernsehers zu schalten, wo der amerikanische Präsident spricht,
weiß man, dass hier nichts mehr in Ordnung ist.

Der Film und WENDERS lassen seine Figuren nicht los.
Was wird aus Paul, was aus Lena?
Die bewegenden Momente sind auch gleich die fragendenden
des Films. Was ist Amerika für ein Land geworden?
War es jemals groß? Was wird aus Amerika nach dem
11. September? Worauf bewegt sich Amerika zu?
Blut oder Gold? Äußerste Verzweifelung!
Die Empörung über den 11. September ist berechtigt. Bis
er vergessen ist.
Die Betroffenen sind tot. Und weiter wird aggressiv
an den Gemeinsinn appelliert, an die eigene individuelle
Absicherung. Amerika: ein Land der kaltblütigen Clowns,
Mafiosos und Luftakrobaten?
Nichts passt in diesem wahnwitzigen Land mehr zusammen.
Das Land ist getroffen, in seinem Innersten mit Metastasen
überhäuft.
An diesem Amerika klebt Blut. Schwamm drüber sagt die
Menschheit, Schwamm drüber sagt die Geschichte,
schwamm drüber sagt der Profit.
Und doch wandeln seine Menschen Nacht für Nacht durch
die Geschichte und versuchen vergeblich, sich das Blut
des 11. September von den Händen zu reiben.

WENDERS scheint ein Land verloren zu haben. Doch
Deutschland ist für ihn keine Alternative, obwohl Deutschland
nicht Amerika ist.
Filmisch ist WENDERS für Deutschland ein Gewinn.
Amerika ist für WENDERS kein Gewinn. Amerika,
„Land of Plenty“, das ist der Ort, wo man Heimat mit Menschen
identifiziert.
Hier kämpft der Mensch gegen den Würgeengel an. Er kämpft
gegen das Vergessen.
Auf das wir es nie vergessen: Willkür und Unterdrückung.
Amerika als Sehnsucht unserer Wünsche, als Heimat,
Wahlheimat, Nochheimat. Amerika mit Wolkenkratzern
und Straßenfluchten. Amerika mit Präsidenten und Kriege,
Amerika mit Träumen, Illusionen, Glück und Unglück.
Man möchte die Reise antreten. Die gefälschte Vergangenheit
treibt uns die Verstopfung bis zum Hals.
Doch man bleibt, selbst wenn uns der Markt verplant.
Dort möchte man das getriebene Dasein in freier Zeit
verbringen. Die Sonne geht dort nie unter. Ob der
Aufbruch gelingt?

Fazit: Wir bleiben Gefangene des Vergessens.
Alles ist möglich und gewiss ist nichts. Was verwirrt
und irritiert uns? Bleibt über Amerika ein Rätsel
zurück?
Paul und Lana: verkörpern sie den Zustand etwaiger
Erneuerungen?
Gibt es auf der Suche nach der Wahrhaftigkeit
keinen Platz mehr?
Wer weiß: vielleicht wird aus der Sucht des
Vergessens eine Erfolgsgeschichte.
Wenders kann uns die Masken der Vergessenheit
vom Gesicht reißen. Wenn er nur könnte, wenn
er nur wollte!!
Mit Leonard Cohens Song „Land of Plenty“
verabschiedet sich der Film. Hoffentlich nicht für immer.

Dietmar Kesten 16.10.04 12:43