filmz.de
Closed

Schultze gets the blues

[ Info ] [ Links ] [ Kommentare ]
Schultze gets the blues Dietmar Kesten 24.4.04 10:32

SCHULTZE GETS THE BLUES

FLUCHTPUNKTE

von DIETMAR KESTEN, GELSENKIRCHEN, 24. April 2004.

Horst KRAUSE ist Schultze. Bekannt wurde er als Polizist
in „Polizeiruf 110“, „Das Mädchen Rosemarie“ (Regie:
Bernd EICHINGER, 1996, „Wir können auch anders“ (Regie:
Detlev BUCK, 1993), „Gelegenheit macht Liebe“ (Regie:
Olaf KREINSEN, 1999),
„Tach, Herr Doktor - Der Heinz Becker – Film“ (Regie:
Gernot ROLL, 1999), „Nachtgestalten“ (Regie: Andreas DRESEN, 2000).
Schultze fristet sein Leben seit Jahren in einem anhaltinischen
Ort nahe der Saale, in dem der Kali-Bergbau ansässig ist.
Sein Leben besteht aus Arbeit, Kneipe, Schrebergarten, Angeln
und Volksmusik.
Als er und seine Freunde Manfred (Karl-Fred MÜLLER) und
Jürgen (Harald WARMBRUNN) in den Ruhestand geschickt
werden, ändert sich sein Leben.
Eines nachts macht er das Radio an und hört Musik, die ihm nicht mehr
aus dem Kopf gehen will. Er entlockt seinem vom ewigen
polka-geschundenen Akkordeon knallige Klänge, die die
Jubiläumsfeiern seines Heimatmusikvereines zu sprengen drohen.
Dort will keiner seine ‚Negermusik’ hören.
Vor die Wahl gestellt, in die gleiche Tretmühle zurückzufallen, oder
als anhaltinisches Subjekt zu enden, trifft er eine Entscheidung,
die ihn bis in die Sümpfe und Bayous von Louisiana führt.

„Schultze gets the Blues“ ist ein sehr einfühlsamer Film.
Jede Zeit bekommt das Kino, das sie verdient. Und offenbar
gibt es immer wieder das Bedürfnis nach gehobener Unterhaltung
im allgemeinen, sanften Erzählungen im besonderen.
Beidem wird der Film auf je verschiedene Weise gerecht.
Das größte aller Märchen, jenes, in dem alle anderen Märchen
aufgehoben sind, ist das Märchen von der Suche nach der
eigenen Identität.
Manchen gelingt es, sie zu finden, manchen nicht.
Zwar kann sie im Kino der Feind einer Geschichte sein,
aber man darf es nicht spüren; denn sonst zerbricht die
Suggestion, zerbricht der Glaube daran, dass die Nacht zwei
Ausgänge hat, einen in der Realität, einen anderen im Schlaf
oder im Märchen.
Doch wird die Suche nach der eigenen Identität zu einem Reich,
in dem sich jeder wiederfinden kann, der will, auch diejenigen,
die diese kurze Unendlichkeit auf einer Nadelspitze balancieren
wollen. Das ist Schultze.

Schultze wird zum Sinnbild der Zeit, wenn die Kamera
(Axel SCHNEPPAT) die Bilder einfängt, die zeigen, wie Zeit
vernichtet werden kann, um sie neu zu erfinden, oder sie
zu bewahren. Man kann mit der Kamera manipulieren und
dokumentieren.
So entstand das theatralische Zauberkino des Georges MELIES,
oder das Realitätskino der Brüder LUMIERE.
Seit dieser Zeit gibt es zwei Wahrheiten im Film, die eine, die
das Wirkliche leugnet, die andere, die es aufhebt und bejaht.
Suggestion und Präsenz in Bildern- das ist nur aus der Distanz
zu verstehen, und diese Kamera verdeutlicht, was wir sehen wollen,
was geschieht. Die Gegenwart im Kino ist immer nur die
Gegenwart des Vergangenen.
Indem die Kamera die Bilder nicht zerstückelt, sondern ruhig
ausbreitet, gewinnt es die Zeit zurück, die Einstellung zu ihr.
Und weil die Dinge und die Menschen hier nicht zerbrechen
dürfen, zeigt sie, was sie bewahren und aufbewahren will.

Schultze kann nicht wiederstehen, seine neue Musik
zu spielen.
Die Kamera ist ganz nah beim ihm. Und von diesen
Kamerafahrten wird es abhängen können, welche Bilder wir
überhaupt noch auf der Leinwand sehen werden.
Werden wir noch noch pawlowsche Splitter sehen, Stimuli,
auf die wir mit eingeübten Reflexen reagieren, oder werden
wir solche sehen, in denen die Zeit nicht mehr lärmend
verrinnt. Die Bildgestaltung ist ziemlich beeindruckend.
Variationen, Überschneidungen, Gleichzeitigkeiten,
verschiedene Orte. Die Bewegungen, die sie einfängt,
ziehen keine flüchtigen Spuren durch den Raum.
Sie ist weder ziellos oder lähmend.
Diese Bilder eignen sich dazu, sie als Gemälde zu
betrachten. Das sind kurze Augenblicke zwischen dem
Näherkommen und dem Weitergehen. Sie sind zu kunstvoll,
als dass man sie einfach ignoriert.

Der letzte Arbeitstag, der Stammtisch, die Umrisse, die
sich in den Fenstern spiegeln, die Windräder, die nahezu
wie holländisches Stilleben des 17. Jahrhunderts
aussehen- hier verweilt man gerne, hier hört man gerne zu.
Hier betrachtet man zeitlose Bilder, nachdenkliche und
überraschende, neugierige, heimlich aufgenommene,
fertige Bilder, die in Stein gehauen erscheinen.
Überhaupt sind all die Bilder gewinnend. Schultze
mit dem Boot in den Sümpfen, Schultze auf
Tanzboden, Schultze auf dem Weg zu einer Petroleumstation.
Herrlich melancholisch, sehr gemächlich, herrlich skurill.
Zwar sind keine Bilder das vollendete selbst, aber doch
erscheinen sie mit voller Hingabe für die ganze Wahrheit.
Hier vergisst man seine Tränen. Und man begreift, staunend,
dass all die Momente, die festgehalten sind, berühmten
Malern ähnlich sind.
Man möchte sie gerne an die Wand nageln, in der Dia-Show
festhalten.

Es muss ein deutscher Film kommen, damit man von der Sucht
loskommt, das alles fortschrittliche auf diesem Sektor aus
Amerika kommt.
Viele amerikanische Streifen scheinen Störenfriede zu sein,
Spieler und Phantasten. Sie gehen ihre Wege der eingeschliffenen
Konventionen, starr im Blick nach vorne, auf Profitmaximierung
orientiert, die Computermaschine als Actionheld, die Improvisation
als Hollywood liebstes Kind.
Jetzt kommt Schultze. Das ist schon fast ein künstlerisches
Projekt.
Horst KRAUSE verwandelt seinen eigenen Kompromiss mit dem
Fernsehen in ein Kino des Schauens.
Fast stimmt alles: die Einstellung, der Rhythmus, andere Töne,
Szenen, die sich vermutlich erst beim Drehen ergaben.
Das interessante ist, dass Schultze ein unvollendetes Gemälde ist.
Er überwindet seine Zweifel, gewinnt seine Kraft zurück, oder
überhaupt beginnt er, aus den Niederlagen im Leben, Kraft zu
schöpfen, Lebenspunkte zu finden, an denen er sich aufrichten
kann.
Natürlich ist das im Kino leichter als im wirklichen Leben.
Doch Kino ist auch irgendwo Erfahrung, die, zwar übermalt
wird, jedoch latent schlummert.
Schultze ist ein neuer Anfang, kein Ende. Er verschwindet
nicht, schließt Frieden mit sich selbst. In dieser Momentaufnahme
gibt es wenig Klischees. Das überrascht sehr.

Regisseur Michael SCHNORR hat eine feine Geschichte erzählt.
Horst KRAUSE wächst über sich hinaus. Man hat ihn selten so
gut gesehen. Er ist ein ernsthafter Schauspieler, der seinen Part
beherrscht, er bringt die Entwicklung voran, die zwar behäbig ist,
manchmal von quälenden Posen bestimmt, die die Grenzen des
kurzen Abends widerspiegeln, die über Umwege erzählt wird,
durch Gesichtsausdrücke, die unscheinbare Gestalten noch
unscheinbarer werden lassen, und die oft flach sind.
Doch sie machen das durch ihren Humor, durch den dialektischen
Umschlag von Idee und Umsetzung vergessen.
Anders als bei Helge SCHNEIDER driftet sein Humor nicht ins
Klamaukfach ab. Davon lebt auch der Film.
Auch hier ist er ein Stein, zwar nur ein kleiner, aber ein gewichtiger,
der nicht fehlen darf.
Zum Ende wird er dann leider flacher, er segelt nicht mehr
durchs Wasser, sondern hüpft und fällt schließlich.

Manchmal ist der Film zu künstlich. Z. b. was die Nachzeichnung
der Charaktere anbelangt, die vielleicht zu überzeichnet portraitiert
sind, ja sogar aufgesetzt wirken, und sich mit Anspruch und
Wirklichkeit nicht unbedingt zurechtfinden.
An der Bahnschrankenposse wird das nur zu deutlich.
Hier ist er sogar platt, und SCHNORR scheint das einfach
von US-Vorbildern abgekupfert zu haben.
Das ruhige Tempo des Filmes hilft, diese Schlappen vergessen
zu machen. Er überschreitet in vielen Phasen den schmalen
Grat zwischen Melancholie und aufkommender Langeweile.
Ein Märchen im Sommer?
Nein, ein Rendezvous mit Tagträumereien, Selbstportraits
und wahren Bildern.

Fazit: Endlich einmal ein bemerkenswerter deutscher
Film ohne Till Schweiger, Katja Riemann, Moritz Bleibtreu
oder Franka Potente.
Horst Krause macht sich kurz vor dem Ertrinken los,
schwimmt was das Zeug hält, an Land, und sagt:
„Was für eine Überraschung. Mein Wille hat das Leben
gewählt.“
Ein Road Movie von einem der auszog, Texas zu
erobern.

Dietmar Kesten 24.4.04 10:32