filmz.de
Closed

Super Size Me

[ Info ] [ Links ] [ Kommentare ]
Der Mensch ist, was er isst. Dietmar Kesten 25.7.04 14:08

SUPER SIZE ME

DER MENSCH IST, WAS ER ISST

von DIETMAR KESTEN, GELSENKIRCHEN, 25. JULI 2004.

Nicht erst seit Bertold BRECHT und seinen Geschichten
über Herrn Keuner, sind die sozialen Verhältnisse ein
Hinweis auf Esskultur und die Essgewohnheiten der
Menschen, die entweder die unerträglichen Verhältnisse
widerspiegeln, oder ein unbeschwertes Leben garantieren.
Nicht selten waren sie vielfach mit der Auslöser
für Bürgerkriege oder Hungerrevolten.
Sie sind auch ein Hinweis darauf, wie sich der
Lebensstandard der Menschen im 19. und 20. Jahrhundert
verändert hat, und dass immer noch fast 1/3 aller
Menschen am Existenzminimum lebt.
Das übermäßige Essen im allgemeinen in Verbindung
mit wenig oder gar keiner Bewegung krank macht, ist eine
Binsenweisheit, was einem jeder Allgemeinmediziner
bestätigt.
Es ist wie mit dem Genuss von Alkohol oder Tabak.
Die Gefahren sind bekannt. Es stellt sich nur die Frage:
wie geht man damit um?

Nun kommt „Super Size Me“ in die Kinos, der die
Frage des übermäßigen Essgenusses problemarisiert,
ihr auf den Grund geht.
Seit Fast Food hat der Disput um die Ernährung einen
neuen Schub bekommen.
Die Restaurantketten ‚McDonald’s’, ‚Taco Bell’, ‚Arby’s’,
‘Jack in the Box’, ‘Wendy’s’, ‘Kentucky Fried Chicken’,
‚Burger King’, ‚Denny’s’ oder ‚Fishburger’ sollen die
Sucht zur Fettleibigkeit fördern, die für eine Reihe von
Krankheitsbildern mitverantwortlich zu sein scheint.
Neben einer radikalen Gewichtszunahme sind das:
hohe Cholesterinwerte, Durchblutungsstörungen,
erhöhter Blutzucker, Darmerkrankungen,
Fettleber, Diabetes, Herz-Kreislaufstörungen, Gicht.

Der Dokumentarfilmer Morgan SPURLOCK
will durch „Super Size Me“ aufklärerisch wirken,
der Wohlstandsgesellschaft, die nicht nur täglich
Berge von Lebensmitteln vernichtet oder verkommen
lässt, oder sie anderwertig unbrauchbar macht, einen
Spiegel vors Gesicht halten, indem er die seiner
Meinung nach selbstzerstörerische Sucht anprangert,
dem Retortenessen keinen Riegel vorzuschieben,
sondern sich ungeniert dem Appetithappen Fast Food
hinzugeben.
Er will zwar nicht die Welt retten, aber auf das
unkontrollierbare Verlangen, sich „das Zeug“ (Originalton)
runterzuschlingen, aufmerksam machen.

SPURLOCK startete einen Selbstversuch und ging bis
an die Grenzen des Erträglichen.
30 Tage lang stopfte er alles in sich hinein, was
Restaurantketten, hier vor allem ‚McDonald’s’,
zu bieten hat.
Burger in allen Variationen und in jeder Größe,
Pommes, Muffins, Cola, Eiscreme und Milchshakes.
Dreimal täglich, so seine eigene Auflage, kehrte er bei
‚McDonald’s’ ein und nimmt fettig, gesüßte und
gesalzene Mahlzeiten zu sich. Das Ergebnis konnte
sich sehen lassen: nach einem guten Monat hatte
er 30 Pfund Zucker zu sich genommen und gute
12 kg an Gewichtszunahme zu verzeichnen gehabt.
Seine Leber hatte die Konsistenz einer Pastete, sein
Cholesterin wies Extremwerte auf und auch sein
Sexualleben lag danieder.
Nach 10 Tagen ungeniertem Fast Food forderten
ihn seine Ärzte unverzüglich dazu auf, das
Experiment abzubrechen, andernfalls sei seine
Gesundheit stark gefährdet.
Einer seiner Ärzte brachte seine trostlose Lage
auf den Punkt: die verheerende Wirkung von Fett
auf die Leber sei gleichzusetzen mit dem ständigen
Saufen.

Nicht nur Nicolas CAGE in „Leaving Las Vegas“
(Regie: Mike FIGGIS, 1995) musste am Ende feststellen,
dass der Alkohol sein Leben ruinierte, sondern auch der
deutsche Schauspieler und Entertainer Harald JUHNKE,
der noch vor Jahren in dem Drama „Der Trinker“ nach
Hans FALLADA (1995) glänzte, musste erfahren,
wie die Sucht nach Alkohol langsam aber sicher
das Leben zerstört und wie die Zersplitterung,
die wie ein Geschwür auftritt, beginnt.
Noch ehe man begriffen hat, wie es um einen bestellt
ist, sieht man sich einem Kreislauf gegenübergestellt.
Man findet sich in einem Irrgarten wieder und nicht
mehr aus ihm heraus.
SPURLOCK hörte nicht auf. Das war die schlechte
Nachricht.
Die gute war, dass er begann, den lebensbedrohlichen
Einfluss der Fast Food Industrie zu kritisieren.
Diese Industrien, so seine Quintessenz, sind
skrupellos und geldgierig.
Sie zeichnen sich wie alle Industrien durch ihre unstillbare
Sucht aus, Kapital zu akkumulieren.

Dass ‚McDonald’s’, ‚Burger King’ und viele andere diesen
Gesetzen des Kapitalismus unterliegen, ist nicht neu.
Und dass die Ware „die höchste Verkörperung der
Zeit ist“ (vgl. Karl MARX: Grundrisse der Kritik der
politischen Ökonomie, Berlin (Ost 1953), die
„das gesellschaftliche Verhältnis der Menschen
bestimmt“ (ebd.) und dass sich so ihr „eigentliches
Abhängigkeitsverhältnis“ (ebd.) erklären lässt, dass
in den „Fetischcharakter“ und in die „Verblendung“
(ebd.) führt, sind Bestandteile des marxistischen
Denkens.
Man hätte sich gewünscht, dass dieser Gedanke
schärfer problematisiert worden wäre.
Es hätte lehrreich sein können, zu erfahren, wie
‚McDonald’s’ zur Gewinnmaximierung gekommen ist,
welche anderen Restaurantketten sie nachhaltig
geschädigt haben, und auf welche Weise und mit wem
sie fusioniert haben.

Dafür ist ein anderes Element umso stärker herausgearbeitet.
Die weltweit 30. 000 Filialen von ‚McDonald’s’ werden
von ca. 46 Millionen Menschen täglich aufgesucht, die
sich der Washingtoner Ernährungslobby, deren Unterstützung
und der öffentlichen Anerkennung sicher sein können.
Sie agieren, um sich Wettbewerbsvorteile zu sichern.
Mit ungezähmten Werbungsmethoden, die jährlich ca.
12 Milliarden Dollar veranschlagen, ist diese
Restaurantkette der Vorreiter von Fast Food in den USA.
Das zeigt, wie der Konzern sich auf Manipulation
versteht, wie er in das öffentliche Leben drängt
(Schulspeisungen) und auf welchen Fundamenten er
gebaut ist.
Der Konzern, so SPURLOCK, wies im übrigen jede
Verantwortung für die Dickleibigkeit von US Bürgern
weit von sich, die je nach Standorten 1-4 mal pro Woche
in Fast Food Restaurants gehen.
‚McDonald’s’ machte im übrigen auch in Deutschland
nun gerade keine positiven Schlagzeilen.
Der Konzern würde seinen Mitarbeitern nur „Hungerlöhne“
zahlen, konnte man lesen. Und unliebsame Mitarbeiter
entlassen, die sich für Arbeitnehmervertretungen in den
deutschen Filialen engagierten.

Aus der aggressiven Werbung und Propaganda ist
bekannt, dass sie eingesetzt wird, um die
Selbständigkeit des Denkens auf den Nullpunkt zu reduzieren,
es aufzulösen.
Radikale Abtreibungsgegner wecken z. B. gerne das
Mütterliche dadurch, dass sie Fotos von Föten
zeigen, um zu demonstrieren, dass das ungeborene Leben
ein Recht hat, geschützt zu werden.
Bisweilen gehen sie soweit, dass sie praktizierende
Abtreibungsärzte (so in den USA) öffentlich denunzieren.
SPURLOCK wählte u. a. auch für seinen Film
ekelerregende Bilder, die keinen Appetit auf Fast Food
machen, die hier ihren Zweck erfüllen.
Aber er flüchtet sich auch in die Illusion, dass alleine
die Faktengläubigkeit ausreiche, um die Sucht bei
‚McDonald’s’ zur Fettmaschine zu werden, zu
bekämpfen.

SPURLOCK verknüpft Informationen, Interviews,
Fotos, Werbespots und Musik zu einer komplexen
Situationsstudie über ‚McDonald’s’.
Nicht selten wird man hier am Michael MOORE
erinnert, der mit „Bowling for Columbine“ (2002)
einen ähnlichen Weg wählte, und der jetzt mit
„Fahrenheit 9/11“ (2004) sich erneut auf den Pfad der
Enthüllungen macht und einen schonungslosen Feldzug
gegen den 43. Präsidenten der USA führt.
Seine subjektiven Wahrnehmungen sollen zum objektiven
Beweismittel werden. SPURLOCK attackiert,
schockiert, ist bisweilen sogar obszön.
Er konfrontiert uns mit unseren eigenen Schwächen: die
Wohlstandsgesellschaft lässt uns nicht mehr wählen.
Was wir essen, was nicht, wie wir uns ernähren, was
wir entscheiden, das alles unterliegt in der Zwischenzeit
dem Moloch Werbung.
Er ruft uns ins Bewusstsein, dass Freiheit bei den
Essgewohnheiten nur darin bestehen kann, zwischen
Ernährung oder Unterernährung, zwischen Fettleibigkeit
(mit all den Gefahren) oder Magersucht, zwischen
Vegetariern (Veganern) oder Fast Food Junkies zu
wählen.

Wie repressive Bedürfnisse entstehen, ist seit der
Frankfurter Schule (vgl. Herbert MARCUSE,
Max HORKHEIMER, Erich FROMM, Theodor W. ADORNO)
bekannt, und auch, dass sie systemstabilisierend sind.
Die Werbung ist langfristige Transformation der
Gesellschaftsstrukturen geworden, die die
Persönlichkeit vermutlich entscheidend verändern.
Im großen und ganzen haben wir das aus den Augen
verloren.
Die Kultur des Essens ist, wie der Philosoph Norbert ELIAS
zurecht formulierte, „der Grundstock des gesellschaftlich
Verbotenen und Erlaubten“. (Vgl. : Norbert ELIAS:
Über den Prozeß der Zivilisation, Frankfurt/M. 1977).

Fazit: In der Zwischenzeit ist fast alles ein
repressives Bedürfnis geworden.
Sucht wird durch eine andere ersetzt. Fakten werden
je nach Sichtweise zum Fanatismus, Produktion zur
Überproduktion, Genuss wird zur Geißel.
Die Verführbarkeit der Menschen wird durch
undurchsichtige Netzwerke mit unheimlichen Verkettungen
immer größer und undurchschaubarer.
Sie sind wie Viren, die zirkulieren, meist subversive
Botschaften verbreitend.
Wer kann noch seine „wahren Bedürfnisse“
(Herbert MARCUSE) von den „falschen“ unterscheiden?
„Die Ideologie unserer Zeit besteht darin, dass Produktion
und Konsum die Beherrschung des Menschen durch den
Menschen rechtfertigen und ihr Dauer verleihen.“
(Herbert MARCUSE: Triebstruktur und Gesellschaft,
Frankfurt/M. 1969).
Das schwarze Netz der Lebensmittelkonzerne,
Fast Food Ketten und Restaurantunternehmen,
die global denken und agieren, scheint immer
undurchsichtiger zu werden. Man muss selbst was tun.
Insofern ist die unermüdliche Bereitschaft von
SPURLOCK, gegen sie anzugehen, ehrenwert und mit
Hochachtung zu begegnen.
Es bleibt die Eigenverantwortung.

„Es soll jeder nach seiner Fasson selig werden.“
(Friedrich der Große)

Dietmar Kesten 25.7.04 14:08