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Die Grauzone

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GEGEN FASCHISMUS UND DIKTATUR. Dietmar Kesten 19.2.05 10:16

DIE GRAUZONE

GEGEN FASCHISMUS, DIKTATUR UND KRIEG.

von DIETMAR KESTEN, GELSENKIRCHEN, 19. FEBRUAR 2005.

Auschwitz ist eine Dimension des Verbrechens gewesen, das über bloße Grausamkeiten, bloßen Hass und bloße Barbarei hinausging. Der eliminatorische und fabrikmäßig organisierte Massenmord ist eine einmalige Dimension des Verbrechens auf deutschem Boden gewesen. Der Holocaust war eine Konsequenz aus der Modernisierungsgeschichte selbst, „die ihre Wurzeln im allgemeinen Boden des bürgerlich-liberalen und demokratischen Denkens der Moderne hatte“ schrieb der Publizist Robert KURZ in „Schwarzbuch Kapitalismus“. In der Tat wurzelte der moderne Antisemitismus schon in der Aufklärungsphilosophie und spiegelte jene inneren Widersprüche des modernen bürgerlichen Bewusstseins wider, das zu den Grundelementen des Denkens über das „jüdische Fremdwesen“ gehörte. Auschwitz muss in die Kontinuität der deutschen Nationalgeschichte gestellt werden. Erst dann begreift man, dass die Nazis nicht vom Mars kamen, sondern aus der Tiefe des deutschen Nationalstaates. Antisemitismus und Nationalgeschichte gehören ebenso zu Auschwitz wie der Fordismus zur kapitalistischen Massenproduktion gehört. Auschwitz gilt als Anfang vom Ende aller Nationen. Und damit steht natürlich auch der Kapitalismus auf dem Prüfstand, der letztendlich auch Auschwitz hervorbringen konnte.
Der Antisemitismus als Staatsprogramm der Nazis, das die ‚völkische’ Logik auf die Spitze trieb, drängte durch die Nürnberger Rassengesetze die Juden in die faktische Selektion hinein. Auschwitz wurde als Vernichtungsmaschine betrieben. Blutsdemokratie und Massenvernichtung, war wie KURZ schrieb, eine „negative Fabrik. Dort wurde nichts produziert, sondern etwas entsorgt, nämlich die phantasmatische Verkörperung des gesellschaftlichen Abstraktionsvorgang in einem warenproduzierenden System. Insofern war Auschwitz die äußerste Konsequenz des Fordismus als kapitalistischer Arbeits- und Industriereligion: die industrielle Erlösung für die deutsche Blutsdemokratie durch die Vernichtung der Juden“. (ebd.) Eine derart paranoide Konstruktion hat es nie wieder gegeben. Der allgemeine Wahnsinn des Kapitalismus spitze sich unüberbietbar und eigentlichen ohne Vorwarnung zu. Vernichtung und Selbstvernichtung begann wie ein Alptraum und endete in diesem, in der ‚völkischen’ Ideologie und der fordistischen Ausprägung
Der industrielle Massenmord, oder wie Daniel GOLDHAGEN schrieb, „der eliminatorische Antisemitismus“ wurde von „ganz gewöhnlichen Deutschen“ (BROWNING) verübt. Menschen aus den unterschiedlichsten Gesellschaftsschichten waren daran beteiligt. Vor allem die SS (Sturm-Abteilung) tat sich hier hervor. Zur Spurenbeseitigung wurden Häftlinge in Sonderkommandos eingeteilt und zu diesen missbraucht. Sie führten, so gezwungen, die Sträflinge ihrer eigenen Verwertung zu, so wie die Nazis die körperlichen Überreste der ermordeten Juden verwerteten. In Verbindung mit dem KZ-System nahm selbst der Gang in die Gaskammer eine teuflische Maske an. So bauten Privatfirmen Großöfen für die Verbrennung. Nach der Ermordung mussten die Häftlinge die Leichen nach dem Nutzenkalkül untersuchen, verwertbare Gegenstände einsammeln, um sie der Verwertung zuzuführen. So verwerteten die Nazis die körperlichen Überreste der Juden bis hin zu Lampenschirmen aus Menschenhaut. Die Häftlinge wurden so zu brutalen Zeugen ihres eigenen Untergangs, sie verdampften quasi in der Suppe der Schizophrenie des Denkens. Sie waren auch die einzigen (Augen-)Zeugen, die inmitten der Vernichtungslager eingesetzt waren, und die, die mit den Opfern Kontakt hatten.

Regisseur Tim Blake NELSON („Eye of God“, 1997, „O“, 2001, Leinwandauftritte in “Donnie Brasco”, 1997, “The Tin Red Line”, 1998, “O Brother Where Art You?”, 2000, “Minority Report”, 2002, “Meet the Fockers”, 2004) hat jetzt einen authentischen Bericht und Autobiografie vorgelegt. „Die Grauzone“ erzählt die Geschichte eines bewaffneten Häftlingsaufstandes im Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau, der am 7. Oktober 1944 Häftlinge eine streng isolierten jüdischen Todeskommandos zum Opfer fielen. Der Film, der sich um merklichen Realismus bemüht, konfrontiert den Zuschauer mit allen grauenvollen Darstellungen aus der NS-Mordfabrik: Massenerschießungen, Folter, Gaskammern, Krematorien, und Zwangsarbeit. Der Mittelpunkt der Geschichte ist eine Gruppe ungarischer Juden, die an der Vorbereitung eines Aufstandes beteiligt sind. Die Planungen geraten in Gefahr als ein junges jüdisches Mädchen lebend unter Leichen in der Gaskammer gefunden wird. Ein zweiter Strang des Films befasst sich mit weiblichen Lagerinsassen, die in der Munitionsfabrik arbeiten. Es gelingt ihnen, Mitgliedern des Sonderkommandos Schießpulver zukommen zu lassen. Bis schließlich der Aufstand blutig niedergeschossen wird.

Es war Frank BEYER, der 1963 nach dem Roman von Bruno APITZ „Nackt unter Wölfen“ verfilmte. Dieser Film realisierte die Situation im KZ-Buchenwald, einer illegalen Widerstandsorganisation, die ein polnisches Kind vor den SS-Schergen versteckte. Der grandiose Akt der Selbstbefreiung des KZ-Buchenwald im Mai 1945 hatte absolute Überzeugungskraft. Und er wurde zum Fanal für jene historische Wirklichkeit, dass man selbst im Angesicht des zu erwartenden Todes, diesen nicht fürchtet. Der Film war eine einzige Anklage gegen den Faschismus. Er machte klar, dass es darum geht, sich nicht zu beugen. Weil es um tiefste Menschlichkeit geht, um Wahrhaftigkeit, und Aufrichtigkeit, fiel dieses Holocaust-Drama aus jeder Unterhaltung heraus. Mit „Schindlers Liste“ (Regie: Steven SPIELBERG, 1994) kam ein Film in die Kinos, der Auschwitz nacherzählte, nachempfinden, nachinszenieren wollte, der die Diskussionen über das Bildertabu anheizte, der vor allem die Frage aufwarf, ob die Opfer hier nicht entrückt dargestellt werden, ob es keinen Respekt für die Würde der Opfer gibt? „Schindlers Liste“, so sehr der Film auch die Entsetzlichkeit zeigte, die Wahrheit, die Geschichte der Todeslager, die Geschichte von Tätern und Mitläufern, der Widerstandskämpfer und Überlebenden: „Schindlers Liste“ war auch ein Film über Rührung und Trauer. Und es war leicht, diese Bilder wieder zu vergessen, weil der Film einen gewissen Perfektionismus hatte, den Perfektionismus Hollywoods, der selbst vor den tiefsten Abgründen der menschlichen Seele nicht halt machte. Und „Schindlers Liste“ konnte nicht vom Holocaust erlösen. Er erlöste nicht die Amerikaner, die Juden, das deutsche Volk. Der Film konnte auch niemanden versöhnen. Das Grauen ging in einem Schwall von Bekenntnissen, Dokumenten und Unzulänglichkeiten unter. Wie Recht hatte doch Günter ANDERS: „Auschwitz ist die Unzulänglichkeit unseres Fühlen.“ Dieser Film erreichte nie die Stärke von „Nacht und Nebel“ (Regie: Alain RENAIS, 1955). Er war ein Mahnmal des Vergessens. Und nahm seinen Ausgang in den großen überwucherten Ruinen von Auschwitz. Der Film zeigte in Rückblenden das Geschehen in den Todeslagern, die menschenverachtende Präzision der ‚Endlösung’. Es waren auch die einprägsamen Bilder, die man in dieser Stärke vergeblich suchte. Und natürlich war es auch die Musik des deutschen Komponisten Hans EISLER, die künstlerische Ausdruckskraft der Schriftsteller Jean CAVROL und Paul CELAN, die den Holocaust überlebten, und die den Film zu einer erbarmungslosen Deutlichkeit und Eindringlichkeit werden ließen. Diese zeitlose Aktualität war die Warnung schlechthin, die Warnung vor der kollektiven Entmenschlichung im Zuge der ideologischen Verblendung und der politischen Diktatur. So erschütternd war kein Film mehr über den Holocaust. Die trivialste aller Holocaust-Geschichten war indes die Serie „Holocaust“, die 1979 im Fernsehen lief und jetzt auf ‚Arte’ wiederholt wurde. Ein Melodrama vom Leben und Sterben der Familie Weiß in Deutschland. Hier wurde Geschichte verfälscht, weil diese Serie kein einziges authentisches Bild enthielt. So schnell wie Rührung und Trauer kamen, so schnell verschwanden sie auch wieder. Wer will auch schon immer mit dieser deutschen Erbsünde konfrontiert werden? Gegen das Vergessen anzukämpfen, verlangt indes kein Strickmuster nach einer Fernsehdramaturgie, die im allgemeinem Fernsehbrei untergeht. Zwischen „Roots“ und „Dallas“ konnte man eben keine wahren Geschichten über den Holocaust erzählen.

Jetzt kommt „Die Grauzone“ in die Kinos. Ein Film, der sich stringent darum bemüht, die grausame Realität zu schildern. Da man weiß, dass man trotz einiger Privilegien am Ende getötet wird, gewinnt dieser Film eine erschreckende durchaus auch zynische Ambivalenz, die ihn befähigt, den Holocaust ohne moralisierende Betroffenheit und ohne Illusionen darzustellen. Das Mosaik des Mordens, das reine Bild, das zur geronnenen Panik wird, das Entsetzen der Angst, der Amoklauf- das sind die Bilder, mit der Vergangenheit zurückgespiegelt wirken. Die Erinnerung muss wiedergewonnen werden, damit gegen das Vergessen angekämpft werden kann. Denn wir vergessen in Schüben. Und da alle Verbrechen neu aufgerollt werden müssen, und sie nur vor der Instanz des eigenen Gewissens behandelt werden können, dass unbestechlicher ist als alle weltliche Instanz, so muss man gegen die alles zermalmende Zeit ankämpfen, die das Vergessen zunichte macht, sie in Banken, Bibliotheken und Wissenschaften einschließt. Dieser Film ist ein Mahnmal, dass alle Stelen in Berlin vergessen machen lässt. Er zeigt uns die Gnadenlosigkeit der Tötungsmaschine. Er zeigt die Verbrecher, die im Königsgewand ihrer Gnadenlosigkeit erscheinen und stolzieren. „Die Grauzone“ zeigt mit ruhigen, sachlichen und aufschreckenden Bildern den Ort, an dem trotz aller Schrecken Menschlichkeit und Wahrhaftigkeit gab. Die Auflehnung besteht in der Sabotage, für einen Augenblick die Selektion und das große Schlachten zu stoppen. Der Film atmet den Geist des Widerstandes gegen Terror, Diktatur und Unterdrückung. Er setzt ein Fanal. Er schreit seine Gefühle heraus. Jede Geste der Darsteller ist ein Aufstand, die Mimik widersteht dem Tod und den Toten, die Dialoge sind ein Stich ins Herz der SS, das Schweigen entspricht der Demut und der Ehrfurcht vor dem Leben. „Wir haben es gemacht“, sagt ein Häftling kurz vor seinem Tod. Die eiskalten Schauer laufen einem hierbei wie Tränen, die man nicht mehr ersticken kann, über den Rücken.

Man wünscht sich viele solcher Filme, weil nur sie über die Schnappschuss-Realität von Hollywood hinausgehen können, weil nur sie wieder die Straßenbilder aus Hanoi, Sarajevo, Pnon Penh oder Bagdad und anderswo in die Erinnerung rufen. Dieser Film ist ohne Beispiel, weil das Schweigen hier mehr aussagt als alle Bücher über den Holocaust. „Die Grauzone“ ist unvorstellbar heldenmütig. Diese Helden sind todgeweihte Helden, weil sie mit ihrem Leben abgeschlossen haben und doch in der Erinnerung weiterleben. Er gewinnt die Schlacht gegen die Leere im Kopf. Der Aufruf des Films sollte in der Quintessenz aller Philosophie gipfeln: wenn wir nicht Gefangene des eigenen Vergessens werden wollen, müssen die Masken des Vergessens zerschlagen werden. Wenn moralische Gefühle nur noch Archivare sind, und die Traditionsverwalter sie jeden Tag verschließen, werden sie eingemauert und wie Trophäen vergraben. Das Vergessen bleibt dann auf der Strecke. Gespeichert sind nur noch die Erinnerungslücken, der Wahn, das kranke Denken und die lieblosen Gesten. Der Aufstand beginnt mit dem Bewusstsein über Diktaturen jeglicher Art. Hier darf man dann nicht mehr das Vergessen vom Erinnern abtrennen; denn dann gewinnt es wieder Macht über uns.

Fazit: Die Aktualität der politischen Ereignisse sind warnende Beispiel, dass Faschismus und Diktatur, die aus der Mitte der Gesellschaft heraus entstehen, nicht verdrängt sind. Kontinuierlich hat sich ein Prozess der Duldung entwickelt. Wenn es wieder Enthüllungen von Denkmälern gibt, Ordensverleihungen, Gedenksteinen, Verleugnen, Verzerren und Verkehren, dann hat im Boulevard der Erinnerung alles wieder seinen alten Stammplatz eingenommen. Wenn die brutale Weltmarktdemokratie keinen Platz mehr für friedliche Koexistenz lässt, dann sind Völkermord und Vertreibung weiter auf dem Vormarsch. Wenn der höchste Staatszweck nicht das Wohl der Menschen ist, sondern der Ökonomie, dann ist der menschliche Geist eine Labyrinth aus Katakomben und Fallen geworden. Man wird höchste Willenskraft benötigen, um gegen die Strategien des Vergessens anzukämpfen. Die Bilder des Films brennen sich in die Seele ein. Auf das wir sie nie vergessen mögen.

„Würden die Menschen sich um das Vergessen nur halb soviel bemühen, wie um das Erinnern, dann wäre die Welt schon längst ein friedliches Paradies.“ (Jean ANOUILH)

Anmerkung des Verfassers: Die Bedeutung des Gesamtwerkes lässt es nicht zu, eine einzige besondere schauspielerische Leistung hervorzugeben. Die Ehrfurcht vor den Toten verbietet das.

Dietmar Kesten 19.2.05 10:16