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Kinsey

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DIE SCHATTEN DER SEXUALITÄT. Dietmar Kesten 28.3.05 10:35
DIE SCHATTEN DER SEXUALITÄT. Gabolo&Gabola 31.3.05 19:14

KINSEY

DIE SCHATTEN DER SEXUALITÄT

von DIETMAR KESTEN, GELSENKIRCHEN, 28. MÄRZ 2005.

Alfred KINSEY, der Name steht für die Erforschung der
Sexualität.
Mit seinen beiden Standardwerden „Das sexuelle Verhalten
des Mannes“ (1948) und „Das sexuelle Verhalten der
Frau“ (1953), legte er eine universale Statistik vor, die im
damaligen prüden Amerika auf heftige Kritik stoß.
KINSEY, der mit tiefgekühlter Sachlichkeit und ohne
moralische Bewertung vorging, deckte eigentlich die
ganze Palette der Sexualität ab, die er herausholte aus der
Verdrängung, aus den Vorurteilen einer sexuell entmündigten
Bevölkerung, aus dem Dunkeln der gesellschaftlichen
Unterdrückung.
KINSEY legte Pionierarbeiten vor, an die sich später
namhafte Sexualforscher orientieren sollten:
Vor allem William H. MASTERS und Virginia E. JOHNSON
griffen in ihrer „Sexuellen Reaktion“ (1967) auf KINSEY
zurück, und waren in ihrer Beschreibung über die Abläufe
der sexuellen Vorgänge, der Reaktionszyklen der Frau
und des Mannes (Erregungsphase, Plateauphase
Orgasmusphase und Rückbildungsphase) darum bemüht,
viele der von KINSEY vorgelegten Materialien, in ihre
Statistiken aufzunehmen und weiterzuentwickeln.
MASTERS/JOHNSON schrieben über Alfred KINSEY:
„Kinsey und seine Mitarbeiter veröffentlichten eine
großangelegte statistische Zusammenstellung über das
Sexualverhalten in den USA für die Jahre 1938-1952.
Diese durch direkte Befragung gewonnenen Daten
über die Sexualbetätigung des Menschen stellen eine
unschätzbare Grundlage für soziologische Erörterungen
dar. Es bleibt der Zukunft vorbehalten, diese Arbeiten
Kinseys richtig zu werten, und man wird vielleicht
erkennen, dass ihre wesentliche Bedeutung liegt darin,
dass die in unserer Kultur bis dahin verschlossene Tür
zu einer gründlichen Untersuchung menschlichen
Sexualverhaltens aufgestoßen wurde.“ (MASTERS/JOHNSON:
„Die sexuelle Reaktion“, Frankfurt/M. 1967, S. 15)

Regisseur Bill CONDON („Candyman 2“, 1995,
„Gods and Monsters”, 1998) hat sich in seinem Film
eben mit diesem Alfred KINSEY beschäftigt.
Liam NEESON („Nell“, „Gangs of New York“,
“Schindlers Liste”) spielt diesen streitbaren Aufklärer,
der sich selbst Zeit seines Lebens in dem Dilemma
befand, einerseits eine gewisse sexuelle Revolution
eingeleitet zu haben, und sich andererseits selbst mit
seiner eigenen unterdrückten Sexualität herumschlagen
zu müssen.
Der junge KINSEY, der in New Jersey aufwuchs, musste
erfahren, dass das Wissen über Sexualität eine
gefährliche Mischung aus Ignoranz, völliger
Unkenntnis und Tabus ist. Die Folgen, die bis heute
bestehen, sind nicht nur Probleme mit der eigenen
unterdrückten Sexualität, die auch einmal mehr das
Versagen von Staat, Gesellschaft und Kirchen zum
Ausdruck bringen, sondern auch die Gefährdung der
Gesundheit, wenn etwa an die Verbreitung von
Aids trotz Aufklärung gedacht wird.
Gegen den Willen des erzreaktionären Vaters, schlägt
KINSEY eine wissenschaftliche Laufbahn ein.
Erst als er seine eigenen Probleme in der
jungen Ehe in den Griff bekommt, fasste er den
Entschluss, das Sexualverhalten der Amerikaner zu
untersuchen.

Alfred KINSEY ist zu verdanken, dass er das
Vermächtnis hinterlassen hat, dass die Suche nach
Wahrheit in der Sexualität und letztlich auch nach
vollendeter Liebe, unbedingt zusammengehören.
Erst eine ausgelebte Sexualität, die von beiden
Partnern akzeptiert wird, wird die Liebe zueinander
stärken können, und die Liebe wird sich in der
sexuellen Nähe verwirklichen. Sexualität ohne Liebe
ist wie ein Fisch, der ohne Sauerstoff nur sein
Dasein zu fristen hat, und umgekehrt stößt die reine
Sexualität ohne eine tiefe zwischenmenschliche
Beziehung schnell an ihre Grenzen.
So tuckert das Schiff der Aufklärung seit den 60er
Jahren vor sich hin, ohne dass sich irgendwo großartig
etwas bewegt hätte.
Die Pornoindustrie ersetzt die Zweisamkeit.
Man kann sich offiziell über Seitensprungagenturen
betrügen lassen, und gibt dann auch noch vor, die
Moralität auf seiner Seite zu haben; man betrügt und
verrät. Der Verräter und der Betrüger wiegen sich
vermeintlich im Recht. Die einen haben die guten
Gründe auf ihrer Seite, die anderen die schlechten.
Dass man aber mit einer sogenannten „freien
Sexualität“ eher das Gegenteil erreicht hat, will selbst
den aufgeklärtesten Sexualforschern nicht in den
Sinn kommen.

KINSEY wusste genau, dass die Spielarten der
menschlichen Sexualität zweischneidig sind.
Dass sie herausgeholt werden muss, aus der Tiefe
unserer Psyche, aus der Einigelung, der Engführung
der gesellschaftlichen Zwänge, der falschen
und unterdrückenden Moralität der Kirchen, und aus
den gesellschaftlichen Katakomben.
Eine erfüllte Sexualität ist ein befreiendes Lebensgefühl.
Sie ist Erlebnisfähigkeit und Hingabe an einen
Partner. Dadurch bekommt sie den Charakter einer
echten Lebensqualität, wenn sie in die Persönlichkeit
des sich liebenden Paares integriert ist.
Dann kann sie auch zum Wohlergehen
und zum Glück dieser Menschen beitragen.
Wird sie jedoch tatsächlich nur zum reinen Akt, zum
reinen körperlichen Trieberlebnis, dann mag sie das
Selbstwertgefühl tief erschüttern.
„Problemlose Sexualität“ gibt es nicht, wie KINSEY
einmal bemerkte, aber es gibt die Liebe zu einem
Menschen, die die gestörte Sexualität immer „heilen“
kann, wenn sich die Partner darauf besinnen,
die Wege aufzuzeigen, mit denen sie ihr erfülltes
Glück in der Sexualität leben wollen.
Dann gibt es, so KINSEY, auch in der Zweierbeziehung
„nichts mehr perverses“.

Liam NEESON verkörpert diesen KINSEY grandios,
einen Menschen, der davon besessen war, peinlich
genau zu recherchieren, andererseits aber auch mit
seinem mangelnden Einfühlungsvermögen in
Bezug auf zwischenmenschliche Beziehungen
Probleme hatte.
Der Freigeist, der auf der Suche nach der Wahrheit
und damit nach der Liebe war, dürfte sich seiner
Verantwortung bewusst gewesen sein.
Insofern muss man sagen, dass es besser ist,
KINSEY hier als Moralisten zu betrachten; denn wenn
man sich gegen Angst und Ignoranz ausspricht, muss
man auch auf moralische Prinzipien zurückgreifen
können.

Fazit:

Kinsey hinterlässt das gesamte Spektrum
der Sexualität, ein Kompendium.
Der Film beleuchtet seine Erfolge, seine
Niederlagen. Er beleuchtet, katalogisiert
und mikrokospiert.
Für wahr eine revolutionäre Meisterleistung.
Wenn Alfred Kinsey an seine eigenen Grenzen
stößt, dann sollte man sich auch an seine eigenen
Sexualstörungen erinnern, an die Abwehr, an die
Ängste, an ein Leben mit Frustrationen und
Trieberfahrungen.
Nicht selten ist eine gestörte Sexualität der
Beginn einer tiefen menschlichen Krise.
Das Vermächtnis von Alfred Kinsey kann nur
lauten, endlich damit zu beginnen, seine
Sexualität zu begreifen und sie wieder und wieder
aus der Unterdrückung hervorzuholen.

Dietmar Kesten 28.3.05 10:35