filmz.de
Closed

L'enfant

[ Info ] [ Links ] [ Kommentare ] [ Kritik ]
Existenz am Rande der Gesellschaft
von Ansgar Thiele

Die 18-jährige Sonia kommt mit ihrem Baby aus dem Krankenhaus. Ihr Freund Bruno hat ohne ihr Wissen die gemeinsame Wohnung zwischenvermietet. Sie findet ihn schließlich in der Stadt. Die beiden verbringen mit ihrem Kind eine Nacht im Asyl. Er lebt von Kleinkriminalität und Hehlerei. „Arbeiten ist was für Weicheier“, meint er. Er ist immer auf dem Sprung für irgendein Geschäft. An Geld zu kommen, scheint ihm ein Kinderspiel. Die beiden lieben sich offensichtlich. Dann allerdings verkauft Bruno das Baby.

In Cannes wurden die belgischen Brüder Jean-Pierre und Luc Dardenne für „L’enfant“ nach ihrem Erfolg mit „Rosetta“ bereits zum zweiten Mal mit der Goldenen Palme ausgezeichnet. Existenz am Rande der Gesellschaft ist hier wie dort ihr Thema. Jérémie Renier und Déborah François, die beiden Hauptdarsteller, verkörpern mit der für die Schauspieler der Dardenne-Filme schon charakteristischen unglaublichen Authentizität ein Paar unter den Bedingungen sozialer Marginalität.

Die Kamera ist immer nah an den Figuren, folgt ihren Bewegungen, in oft hart gegeneinander geschnittenen Plansequenzen. Eine rauhe Ästhetik, die große Intensität erzeugt. Wer wird nicht frösteln, wenn Bruno und sein jugendlicher Komplize nach einem Diebstahl in die winterliche Maas steigen, um sich vor Verfolgern zu verstecken? Um derartige körperliche Effekte geht es den Regisseuren ersichtlich, eher als um psychische Annäherung oder Identifikation.

Entsprechend auch die Rolle des Babys. Von der ersten Einstellung an präsent, sieht man doch kaum je sein Gesicht oder hört es schreien. Niedlichkeit wird ausgespart. Das Baby fungiert geradezu als Hitchcockscher McGuffin, der Interesse weckt, einen in die Handlung hineinzieht, ohne eigenständige Bedeutung zu gewinnen.

Dem Eindruck des Realismus steht, vielleicht noch mehr als in den früheren Filmen der Dardenne, ästhetische Stilisierung gegenüber. Es dürfte so z.B. kein Zufall sein, wenn die Kleidung der Protagonisten in der sehr langen, sehr präzise choreographierten und kadrierten Schlusseinstellung mit der Farbe der Wände korrespondiert. Die Handlung selbst ist, bei aller Bedeutung alltäglichen Geschehens, streng symmetrisch organisiert.

Es geht den Dardenne offensichtlich um Allgemeines, auf einer ersten Ebene im Zweifel um Kritik an einer verantwortungsscheuen kapitalistischen Gesellschaft, grundsätzlicher aber um moralische Fragen wie Schuld und Sühne – entsprechend auch der Name der Protagonistin Sonia als Referenz auf Dostojewski. Hinter scheinbarer Unmittelbarkeit wird ein ebenso anspruchs- wie widerspruchsvolles Programm erkennbar.