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Schneeland

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WENN DIE BILDER DICHTER WERDEN. Dietmar Kesten 21.1.05 17:45

SCHNEELAND

WENN DIE BILDER DICHTER WERDEN

von DIETMAR KESTEN, GELSENKIRCHEN, 21. JANUAR 2005

Der tragische Unfalltod ihres Mannes Ingmar (Martin FEIFEL)
lässt die Schriftstellerin Elisabeth (Maria SCHRADER)
verzweifeln. Sie bleibt mit ihren drei Kindern zurück.
Sie beschließt, ihm in den Tod zu folgen und kehrt zum
Sterben in die unendlichen Weiten Lapplands zurück, wo
sie ihren Mann einst kennen lernte.
Hier stößt sie in der Nähe eines Einsiedlerhofes auf den
eingefrorenen Leichnam einer alten Frau im Schnee.
In ihrem Haus entdeckt Elisabeth Spuren und Indizien einer
großen Liebe, die sich an diesem Ort vor guten 30 Jahren
abgespielt hat.
Von diesen Spuren tief beeindruckt, sucht sie intensiver nach
dieser Geschichte und lässt sich vom Sog der Liebe zwischen
Aron (Thomas KRETSCHMANN) und Ina (Julia JENTSCH)
hinwegtragen, die sie dazu bringen wird, zu ihren Kindern
zurückzukehren und von ihren ursprünglichen Plänen zu
lassen.
In Rückblenden entfaltet sich die schreckliche Geschichte
von Ina, die von ihrem sadistischen Vater (Ulrich MÜHE)
bestialisch gequält, gedemütigt und vergewaltigt wird, und die
nach dem Tod der Mutter wie eine Sklavin leben muss.

Hans W. GEISSENDÖRFER, der sich als ‚Vater der
„Lindenstraße“ einen Namen gemacht hat, hat seit langer
Abstinenz wieder einen vorzüglichen Film gemacht.
Bereits 1977 war er durch die Produktion
„Die gläserne Zelle“ nach dem Roman von
Patricia HIGHSMITH (1964) aufgefallen. Mit seinem
„Zauberberg“ nach Thomas MANN (1981), der die Geschichte
des Hans Castorp erzählt, gelang ihm ein weiterer
Achtungserfolg. Mit seinem Film „Justiz“ (1993) nach
Friedrich DÜRRENMATT konnte er vier Deutsche
Fernsehpreise gewinnen und sogar eine Oscar-Nominierung
abräumen.

Stilles und nachdenkliches Kino ist selten geworden.
Vor allem in Deutschland. Auswege aus der marktkonformen
Monotonie gibt es selten.
Das Ende jeglicher Autorenträume verpufft meistens in
der Psychomechanik, der Videozauberei, der bombastischen
Effekte und jeder Menge Dynamit.
Das Cinema als Wahrheitskino gibt es schon lange nicht
mehr. Vielleicht gab es auch nie?
Gerade deshalb passen Filme in die Erinnerung, oder ins
Gebäude zukünftiger Erinnerungen, die wie ein kleines
Wunderwerk wirken.
Gesichter, Menschen und Landschaften haben in diesem
Kino ein Verhältnis miteinander. Es ist so, als suche man
den verlorenen Geliebten, deren fehlen erst man nach
Monaten bemerkt.
Die Abwesenheit ist in diesem Filmuniversum die
Einmaligkeit; denn alles kehrt wieder: die Kamera, die
Geduldigkeit, das Publikum, das zuschaut, die Figuren,
Träume, Hoffnungen, Gesichtsausdrücke, Gesten,
Gespräche. Natürlich auch die Schauplätze, in denen ein
ganzes Leben erzählt wird.

„Schneeland“ gehört dazu, weil dieser Film alle
Voraussetzungen für bestes Kino erfüllt. Der Film, der
ganz aus der Kategorie ‚Unterhaltung’ herausfällt, ist
ein Winterdrama aus dem fernen Lappland.
Er zeigt Gewalt, Verrohung und tiefe Einsamkeit mit
schonungsloser Härte und brutalen Bildern auf.
Einige gute Schauspieler, die sich ganz auf solche
Geschichten verstehen, schaffen es, dem Film eine
ganz besondere Note zu geben.
Wie sich die Figuren von GEISSENDÖRFER entscheiden,
ist eigentlich unwichtig. Wichtig ist nur, warum sie
sich, so wie es tun, entscheiden. Und dabei erfährt man
viel über abgelebte Hoffnungen, Träume und über den
Zeitraum, der sie überdauert.
Es sind die Bilder, die Worte, die Gesichtsausdrücke die
nachdenklich machen. Man versteht durch sehen.
Und da alle Protagonisten wenig miteinander sprechen,
wirken die Bilder in der Winterlandschaft um so exzessiver.

Deshalb ist der Film auch ein kleines episches Wunderwerk,
weil er es vermeidet, von Schauplatz zu Schauplatz zu
hetzen, von Gesicht zu Gesicht und von Einstellung zu
Einstellung.
Die famose Kamera (Hans-Günther BÜCKING) fängt die
Momente von Verzweifelung und Unsicherheit so ein, das
daraus der furchtsame Zuschauer entsteht, der sich so
geläutert aus dem eigenen Gefängnis befreien kann, wenn
er möchte.
Mit eigener Wahrhaftigkeit gewappnet tritt er einem Film
entgegen, der es allemal mit Hollywoodproduktionen
aufnehmen kann.
Auch wenn die Geschichte große Aufmerksamkeit
verlangt und mit der Episode von den Bauersleuten
Helga (Ina WEISE) und Salomon (Oliver STOKOWSKI),
die eines Tages einen Fremden aufnehmen, etwas
störend wirkt, so ist die Thematik inmitten der
atemberaubenden Landschaft lebendig und lebensnahe.
Und die Liebe ist nur ein Moment in der Ewigkeit dieses
Filmes.

Es geht letztlich um die Grundfragen menschlichen
Lebens: was wollen wir noch, was können wir noch,
was ist mit unseren Träumen, den Alternativen, ist
Liebe stärker als alles andere?
Der Film kettet sich an diese Fragen, weil er ohne sie
keine Berechtigung hätte.
Er kettet sich an alle Beteiligten. Die Geschichten werden
eins. Und der Kopf ist voller Bilder, weil man sie immer
nur aus dem Innersten zurückholen kann.
Ulrich MÜHE als buckliger Tyrann gehört zu jenem Typus
Mensch, dem man nicht in der Dunkelheit begegnen
möchte.
Und doch ist er ein Teil von uns, weil wir selbst
kreuzweise belügen, betrügen, uns verlieren in der
Aggression, verlassen werden, uns scheinbar wiederfinden,
und lebend entsprungen scheinen.
MÜHE starrt voller Entsetzen in die Kamera.
Es ist so, als ob dieser irre und tierische Blick uns trifft,
den man noch spürt, wenn der Film schon lange zu Ende
ist.

Fazit: Es ist nicht der Tod, der hinter uns her ist,
sondern das Leben.

Dietmar Kesten 21.1.05 17:45