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Wenn Träume fliegen lernen

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LIEGEN UNSERE TRÄUME AUF DER STRAßE Dietmar Kesten 26.2.05 11:39

WENN TRÄUME FLIEGEN LERNEN

LIEGEN UNSERE TRÄUME AUF DER STRAßE?

von DIETMAR KESTEN, GELSENKIRCHEN, 26. FEBRUAR 2005.

„Finding Neverland“ ist ein Traumerlebnis.
Der Film spiegelt einige Monate des Londoner Theaterautors
J. M Barrie (Johnny DEPP) zu Beginn des 20. Jahrhunderts.
Sein neues Stück fällt bei der Premiere in London durch.
Er braucht ein neues Stück.
Charles Frohman (Dustin HOFFMAN) hält an dem ambitionierten
Schriftsteller fest, und ermuntert ihn dazu, ein neues Stück zu
schreiben.
Auf dem Weg dorthin lernt er mehr zufällig die Witwe
Sylvia Lliewely-Davis (Kate WINSLET) und ihre Söhne kennen.
Aus der Inspiration heraus, den Erfahrungen, den Gesprächen
mit der Witwe, vor allem aber im Spiel mit Michael (Luke SPILL),
Peter (Freddie HIGHMORE), Jack (Joe PROSPERE) und
George (Nick ROUD), resultierte sein neues Stück „Peter Pan“,
das Märchen schlechthin.
Und so wird die Begegnung mit Sylvia und den Söhnen zu
seiner großen Inspiration.

Träume sind ein Bestandteil der Phantasie, die während des
Eindämmerns von uns Besitz ergreifen. Hier spielen wir nur die
Rolle eines unbeteiligten Beobachters, während rings um uns das
Leben pulsiert.
In diesen Träumen findet die räumliche und zeitliche Verschiebung
der Realität statt. Die unerfüllten Wünsche- hier sind sie im
Unterbewusstsein sedimentiert.
Sie führen uns aus der Kontemplativität des Denkens heraus, aus
der monströsen Alltagssituation, und wir erleben sie ohne Ecken und
Kanten, nahezu gleichförmig.
Die Macht der Fantasie umfasst uns. Und wir bleiben hier ewig
jung, lassen uns in Raum und Zeit fallen.
„Peter Pan“, die Geschichte der Fantasiewelt Nimmerland, die für
Barrie zur Grundlage seines neuen Stückes wird, ist eine Geschichte,
die uns in den Heaven der Sehnsüchte führt, der Vergangenheitserlebnisse
und Zukunftsvisionen.
Nun wird das Kino selbst zum Traum. Sogar zum Alptraum, der in
uns nagt.
Weil Schein und Sein, Realität und Fiktion uns ständig Streiche
spielen, und weil neben der Fiktion das reale Leben uns spätestens
im Bus oder der U-Bahn eingeholt hat, ist der Glaube an die
Realität der Hoffnung und der wenigen Glücksaugenblicke ein
schmaler Pfad geworden.

Menschen sind eine merkwürdige Spezies. Sie trennen gerne
ihre Träume vom Erlebten ab. Sie können die Wirklichkeitsebene,
die sowieso schon schwer genug zu beschreiben und auch zu
begreifen ist, niemals richtig einordnen. Und sie verlieren sich in
einem Einheitsbrei, der mit tausenden gesellschaftlichen Facetten
umwoben ist.
Die engen Rahmenbedingungen, die uns durch die Realität
gesetzt sind, überschreiten wir tatsächlich nur im Traum.
Spätestens hier wird deutlich, dass unsere Gemütszustände in der
realen Welt diesen Traumbildern abgekupfert zu sein scheinen.
Alles ist dort abrufbar. Es gibt keine Zeit und keinen Raum.
Der Stoff, aus dem die Träume sind, ist die Seelentiefe, aus der
sich wie in einem Feuerwagen alles abfahren lässt: alle
gemachten Erfahrungen, Schuld, Sehnsucht, Liebe, Hass, Ängste
und das nicht enden wollende Leid.
Hier sind tatsächlich Gegenwartserlebnisse, Vergangenheitswahn
und Zukunftsvisionen eins.

Im Traum stellen wir mühelos unser reines Leben her, was
sonst nur selten geschieht.
Wir fügen uns aus Scheibchen wieder zusammen, rasen durch den
Ereignisdschungel. Wir sind auf der Datenautobahn unterwegs und
überqueren mühelosen die Horizonte der Geschichte.
Was sind Märchen, wird alles gut, ist alles nur ein Traum, nur
Fantasie?
Warum werden in der Fantasie und in Märchen mehr Türen
geöffnet, als im wirklichen Leben, warum werden hier keine
Türen zugeschlagen?
Was ist im Traum der Erkenntnispfad, der uns hilft, durchs Leben
zu schiffen?

„Peter Pan“, der Junge, der nie erwachsen werden will, ist in
„Finding Neverland“ der charmante Versuch, uns unser
Zauberreich ‚Neverland’ näher zu bringen.
Es gab schon einmal eine ähnliche Geschichte.
„Hook“ von Steven SPIELBERG (1991) mit Robin WILLIAMS
war ein Fehlschuss. Hier konnten keine Traumgeschichten
vermittelt werden, weil diese Geschichte nicht hinterfragt
wurde, weil SPIELBERG keinen Raum für die Fantasie ließ,
weil das Wesen von „Hook“ nur eine Ansammlung von
Design-Elementen war, abgetakelte Kindergeschichten für
Erstklässler, die in ihrem Kinderzimmer vor lauter
Spielzeug keinen Blick mehr für die besten Steine haben.

Marc FOSTER („Monster’s Ball“, 2002) überrascht.
Während die „Peter Pan“ Geschichte in verschiedenen
Varianten oder als Disney-Film immer wieder auf der
Leinwand erschien, orientiert sich FOSTER auf Barrie selbst.
Er stellt ihn in den Mittelpunkt.
In der Tat ist dies gelungen. Als er Sylvia und die
Söhne kennen lernt, ist er Feuer und Flamme.
Er ersinnt ständig neue Abenteuer, Fantasiemärchen, spielt
sie mit ihnen durch, die auch in seinem eigenen Leben immer
mehr an Bedeutung gewinnen.
Die Fantasiereiche sind weitläufig.
Hier können wir beruhigt mit einem Joystick in der Hand uns
unsere eigenen Welten (er-)schaffen.
Was man sich nicht oft fragt, das geht im Leben verloren.
Das ist alles unwiederbringbar.
In dieser Fantasie mag alles auf ewig zerstört sein. Doch das
macht nichts. Wir setzen uns zwar selbst schachmatt. Alles
scheint durch einen schmalen Trichter nach unten gezogen zu
werden. Durch die Sucht nach anderen Perspektiven, tritt
wie ganz selbstverständlich eine neue Traumwelt hervor.
Wie eng doch Fantasie und Träume zusammen gehören!

Die Fantasie ist wie ein Kompass der Seele.
Es gibt keine Himmelsrichtungen. Wir ‚erleben’ alles ohne
Wände, Decken, ohne Dichtungen und Durchlässen.
Diese Welten verschmelzen, verschwinden, manchmal für
immer.
So zieht man sich hier gerne zurück. Zurück von dem
Konsumismus, zurück von Frust und Niedertracht, zurück von
der alltäglichen Verrichtung, den gesellschaftlichen Zwängen.
Es gibt immer noch diesen Gemütszustand, die Trance,
das Balancieren auf der Nadelspitze, die Schwingungen.
„Finding Neverland“ ist ein Film, der uns in unserer
Traum-Phantasie mitreißt, der alle denkbaren Gedanken
widerspiegeln mag, der naiv-kindlich ist,
übertrieben-erwachsen, überzeichnet, verspielt, betörend und
anmutig.

Was wäre, wenn das reale Leben nur ein Traum wäre, in dem
die Rückwand des hundert Jahre alten Barrie-Theaters nur
ein Doppelspiegel wäre?
„The world is my Oyster“ sangen Frankie goes to Hollywood
1983.
Kriecht man dort hinein, spürt man den Zauber, der über dem
Film liegt.
Erwachsene werden Kinder, Kinder werden Eltern,
Geschwister Feen oder Elfen. Visionen enden oft
melancholisch. Hier sind sie fesselnd, weil mithilfe der Fantasie
oben und unten, arm und reich, gut und böse, alle
gesellschaftlichen Klassen und Schichten verschwinden.
Ach, wenn das wirkliche Leben nur so aussehen könnte.

Fazit: Wenn auch hier und da überzeichnet, zu beschaulich
und zu melodramatisch, so geht von dem Film eine eigenartige
Faszination aus.
Wenn es draußen dämmert, die Schlafenszeit angebrochen
ist, dann schauen wir durch die Wolkengebirge unserer Fantasie.
Wir legen eine Maske auf unser Gesicht, entschwinden dem
Körper, und beginnen, einen warmen Bergquell zu durchsteigen.
Wir überlassen uns völlig der Situation und fliegen in den
Kosmos.
Unsere Augen sehen sich nicht satt, saugen alles auf, und wir
durchschreiten mit Hilfe der Fantasiewelt die Grenze zwischen
Realität und Traum.
Merkwürdig: wie eng die gesellschaftlichen Bahnen der
Menschen doch verlaufen.

Dietmar Kesten 26.2.05 11:39