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Falscher Bekenner

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Zur richtigen Zeit
von Ansgar Thiele

Im aktuellen deutschen Kino stechen zwei Tendenzen hervor. Da sind zum einen die Filme, die aus den großen Ereignissen der deutschen Geschichte ihre Handlung ableiten, zum anderen die, die von den winzigen Begebenheiten des Alltags ihren Ausgang nehmen, top down vs. bottom up gewissermaßen. Erstere, Filme wie „Sophie Scholl“, „Der Untergang“, „Der rote Kakadu“, „Das Leben der Anderen“, sind bei Filmförderung und TV-Sendern beliebt, geschätztes Diskussionsthema des Feuilleton, zur nationalen Selbstvergewisserung und für Schulaufführungen empfohlen. Zu letzteren zählen Filme wie „Lichter“, „Sommer vorm Balkon“, „Unterwegs“. Besonders prägnant innerhalb der zweiten Richtung die hierzulande inzwischen oft als „Berliner Schule“ etikettierte Gruppe von RegisseurInnen wie Petzold, Schanelec, Arslan, Hochhäusler, Heisenberg, Grisebach. Ihr Ruf: ästhetisch elaboriertes, eher intellektuell-elitäres Kino zu produzieren (in Frankreich, wo man sowas zu schätzen weiß, ist versucht worden, diese jungen deutschen Regisseure als „Nouvelle vague allemande“ zu vermarkten).

Das Problem der zuerst genannten Historienfilme: die Handlung bleibt oft konventionell, abstrakt, in zum Dekor erstarrter Geschichte. Vor allem aber ist nicht ganz klar, worum es diesen Filmen geht – Bildungswert konsensueller Geschichtsrekonstruktionen, wohliger Schauer angesichts der Schrecken deutscher Diktaturen, frivol-selbstmitleidiges Kokettieren mit deutschen Opferrollen? Jedenfalls ist auffällig, dass es sich im allgemeinen um Filme von Regisseuren handelt, deren persönlicher Bezug zum Dargestellten vage ist, dass engagierte Verankerung in der Gegenwart oder gar Polemik fehlt. (Man vergleiche nur einmal „Das Wunder von Bern“ mit Fassbinders Verarbeitung deutscher Nachkriegsgeschichte in „Die Ehe der Maria Braun“).

Die alltäglichen, intimistischen Geschichten der zweiten Tendenz stehen demgegenüber vor der Gefahr, im Einzelfall und oft genug deprimierender Gegenwärtigkeit stecken zu bleiben. Dennoch: mehr als die zuerst genannten haben diese Filme das Zeug, uns etwas anzugehen. Als ästhetische und damit eigentlich filmische Auseinandersetzung mit unserer Gesellschaft.

Christoph Hochhäuslers „Falscher Bekenner“ ist ein Meisterstück dieser Art Kino. Im Mittelpunkt steht der 18-jährige Armin Steeb, der nach dem Realschulabschluss nicht recht weiß, was er mit sich anfangen soll. Eines Tages verschickt der junge Mann einen falschen Bekennerbrief. Er behauptet darin, einen tödlichen Autounfall, dessen Zeuge er zufällig geworden war, durch Manipulation am Fahrzeug bewusst herbeigeführt zu haben. Dieser Ausgangspunkt der Handlung ist fast das einzig Spektakuläre an ihr. Die Jobsuche Armins und seine halb eingebildete Beziehung zur Nachbarstochter Katja sind weitere Themen, dann homoerotische Begegnungen mit Mitgliedern einer Motorradgang, deren Realitätsgehalt noch weniger greifbar ist.

Das eigentlich Spektakuläre des Films aber liegt in seiner Darstellung des Unspektakulären. Blieben die Figuren in Hochhäuslers erstem Film „Milchwald“ zum Teil etwas blass, in ihrer Motivation und gesellschaftlichen Existenz undeutlich, so wirkt hier alles überaus real. Die kleinstädtisch-bürgerliche Existenz, die der Film inszeniert, Familienleben, Erwachsenwerden, Jobsuche, erste Liebe, das alles hat hohen Wiedererkennungswert. Keine sehr aufmunternde Variante des Coming-of-Age-Themas, sicher. Aber auch keine Ansammlung von Negativklischees. Die Beziehung Armins zu Eltern und älteren Brüdern ist nicht (wie das vielleicht nahe gelegen hätte) nur als ein von erdrückenden Erwartungen, Geschwisterkonkurrenz, Sprach- und Verständnislosigkeit geprägtes Verhältnis oder umgekehrt als heile Welt liebender, freundschaftlicher Zuneigung gezeichnet, sondern als komplexe Verschränkung ambivalenter Emotionen. Und auch die Personalmenschen, mit denen Armin in diversen Vorstellungsgesprächen zu tun bekommt, sind keine kalten Zyniker. Gerade die guten Absichten seiner Umgebung stellen indessen nicht die geringste Belastung für Armins jugendliche Identitätssuche dar.

Die detailreiche Darstellung allzu bekannter (wenn auch im Film selten so überzeugend erfasster) familiär-gesellschaftlicher Verhältnisse hätte leicht ermüdend werden können. Hier ist sie immer wieder komisch. Ohne zu überzeichnen oder seine Figuren zu Typen zu degradieren, gelingt es dem Regisseur, in der Konfrontation des trägen, unangepasst-versponnenen Armin mit seiner Umgebung deren latente Lächerlichkeit aufzudecken. Das gilt etwa für die Rituale der Vorstellungsgespräche ebenso wie für die üblichen Familientreffen – wobei neben der gesellschaftlichen Konvention systematisch auch deren wohlmeinende Durchbrechung inszeniert wird und die Peinlichkeit, die aus beidem resultieren kann.

Das alles ist auch ästhetisch wunderbar treffend umgesetzt. Jede Dialogzeile sitzt. Die Schauspieler, allen voran Hauptdarsteller Constantin von Jascheroff, sind beeindruckend glaubwürdig. Die Dramaturgie setzt auf Andeutungen, Lakonie (die Brüder Armins werden so zum Beispiel erst ziemlich spät eingeführt). Die Kameraarbeit (Kamera: Bernhard Keller, der auch die Filme von Valeska Grisebach gefilmt hat) ist äußerst präzise. Das Cinemascope-Format ist weniger für Totalen eingesetzt, keine weite Landschaft (und wenn, dann vor allem die Nichtorte der Autobahn- und Vorstadtgeographie), überhaupt wenig Überblick. In den dominierenden Naheinstellungen unterstützt es den Eindruck von Fragmentierung und Isolation der Figuren. Die High-Definition-Videokamera, mit der gefilmt wurde, bildet die kleinstädtische Welt des Films in differenzierten Grautönen ab. Musik ist sparsam und wirkungsvoll eingesetzt (geradezu als Schock, geschickt zwischen Off und On changierend: „Universal Pussy“ von Chicks On Speed).

Ein Beispiel für die subtile Inszenierungskunst des Films ist ein Familientreffen bei Steebs: Eigentlich hatten Armins älterer Bruder und seine Frau die Gelegenheit nutzen wollen, um ihre Schwangerschaft zu verkünden, doch es stellt sich heraus, dass Armin alles schon ausgeplaudert hat. Ein aufkommender Konflikt wird schnell beigelegt. Später sitzen alle Gäste friedlich vereint auf der Couchgarnitur. Die Frage an Armin, was er jetzt eigentlich mache, wird schonungsvoll abgebogen, der Vater liest die Zeitungsschlagzeile „Falscher Bekenner“ vor, banale Unterhaltung geht hin und her, dann brechen alle bis auf Armin zum Spaziergang auf, der Bruder wuschelt ihm im Aufstehen als Zeichen der Versöhnung über den Kopf, der Vater will ihn zum Mitgehen überreden, dann löscht er das Licht. Diese ganze lange Szene ist in einer einzigen halbnahen bis nahen Einstellung gefilmt, während derer die Kamera sehr langsam, in etwa auf gleicher Höhe bleibend hin- und herschwenkt und doch das Wesentliche der Interaktion wie beiläufig kadriert.

Der Film bietet einen ästhetisch reflektierten, luziden Kommentar zu aktuellen gesellschaftlichen Verhältnissen, bis hin zur Hysterie gegenüber „terroristischer“ Bedrohung der bundesrepublikanischen Mittelstandsidylle (das lokale Boulevardblatt, aus dem Armins Vater vorliest, kommentiert das Bekennerschreiben mit: „Der Terror rückt näher“). Vor allem aber entwirft er ein facettenreiches Porträt seines Protagonisten. So nah er ihm dabei, nicht nur mit der Kamera, kommt, so sehr er ihn bis in seinen Alltag und seine Phantasien hinein begleitet, so versucht er doch nicht, ihn zu definieren. Er beobachtet sehr genau, ohne dieser Beobachtung simple Erklärungen aufzumontieren. Die sehr schön offene, vieldeutige Schlusseinstellung ist wie ein Bekenntnis dieser den Film prägenden Haltung.