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Lemming

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Die Leerstelle in der Struktur Franz Witsch 11.7.06 11:33

Die Leerstelle in der Struktur
(Fragmentarisches über soziale Theorie)
als Fortsetzung zum Kommentar des Films "Heimliche Staatsaffären" von Claude Chabrol

“Die Geschichte dieser anderen Art des Wahnsinns
ist zu schreiben, in der die Menschen miteinander
in der Haltung überlegener Vernunft verkehren,
die ihren Nachbarn einsperrt.”
(Michel Foucault, “Wahnsinn und Gesellschaft”, Vorwort)

Wo der Deutsche schweigt, beim Lesen, beim Betrachten, noch wo er zu reden zwanghaft nicht aufhört, fängt der Franzose an zu reden, um Kopf und Kragen, wenn’s sein muss. Im Film “Lemming” von Dominik Moll, der im Jahre 2005 die Filmfestspiele von Cannes eröffnete, steht ein hübsches Paar im Zentrum. Von Paris kommend, ist es gerade dabei, sich am Rande einer Stadt im Süden Frankreichs ein neues Zuhause zu schaffen – aufgepumpt mit Lebenslust, voller Optimismus. Denn hier bekommt Alain (Laurent Lucas) als Ingenieur die Gelegenheit, federführend an der Entwicklung einer fliegenden Überwachungskamera zu arbeiten. Ein merklicher Karrieresprung. Seine Arbeit nötigt nicht nur seinem neuen Chef Richard (André Dussolier) Bewunderung ab. Seine Frau Bénédicte (Charlotte Gainsbourg) mag es überdies, mit einem Mann verheiratet zu sein, der in seinem Verhalten so gar nichts von Karrieregeilheit mit sich führt. Ist es nicht putzig, wie er als Techniker mit zwei linken Händen im Haushalt herumläuft, sich an einem verstopften Abflussrohr zu schaffen macht und dabei eine Zange zu Bruch gehen lässt? So einer ist formbar, mag sie vielleicht denken und begnügt sich ihrerseits mit einem Dasein als Hausfrau, vernunftgründig aus freien Stücken, scheint gar glücklich dabei, vorerst, wo es doch in ihrem neuen Heim noch so viel zu tun gibt und ihr Beruf als Pharmavertreterin ohnehin so gar keine Freude mehr macht. Sagt sie.

Alain weiß gar nicht wie ihm geschieht, als er ihr abends im Bett kurz vor dem Einschlafen ausmalt, wie er gerade eben einen im Abflussrohr der Spüle verendeten Hamster herausoperiert hat, um ihn sorgfältig auf dem Küchentisch auf einer Plastiktüte zu betten. Ein Berglemming, wie sich später herausstellen wird, der plötzlich am nächsten Morgen unter Bénédictes großen, dunklen Augen ganz leise zu quieken anfängt, als wüsste sie um die wiederbelebende Wirkung ihrer Augen, die offenherzig und kindlich blicken, die, ohne zu fixieren, Ruhe ausstrahlen, wiewohl in ihrer in sich ruhenden Ausgeglichenheit zugleich etwas Beschwörendes an sich haben, als sei die Welt allein dazu da, dass man sich für sie interessiere. Als würde allein das Interesse die Dinge zum Guten wenden. Der Lemming tollt denn auch alsbald wieder ganz quietschvergnügt in einem bereitgestellten Käfig herum. Wie gesagt, Alain, ein wenig schläfrig vor sich hin redend, wie um eine Gute-Nacht-Geschichte zu erzählen, weiß nicht wie ihm geschieht, denn während er den merkwürdigen, noch so gar nicht bedrohlichen Sachverhalt um den verstopften Abfluss ausmalt, machen sich in Bénédicte sexuelle Begierden bemerkbar, die ausgelebt werden wollen, zunehmend, während er immerzu weiter malt, als wohne der Geschichte von einem verendeten Vieh aphrodisischer Zauber inne.

Natürlich kann so ein Gerede auch schief gehn. Vielleicht dass die Geschichte für unser Pärchen so gar nichts Nekrophiles an sich hat, selbst für Bénédicte nicht, obwohl sie es war, die sexuell sofort reagierte, so bestraft gemäß der antiken Überlieferung das Schicksal doch auch den, der von seinen Sünden nichts weiß oder verführen lässt. Nicht mit der Tat, sie mag unschuldig sein, nein mit der Neugier fängt alles an, die Sünde und der Fluch, um im Interesse dann Gefahr zu laufen, sich in Maßlosigkeiten zu verlieren. Der Zuschauer mag sogleich ahnen, dass der Lemming, sobald Alain in aus dem Abfluss zieht, einen Fluch markiert, nicht so die Figuren, dafür sie ihr Leben zu nah an der Realität orientieren, wie um nichts davon wissen zu wollen, dass durch diesen Lemming auf ihrem Leben ein Fluch lastet, der es in seine Einzelteile zu zerlegen droht. So steht’s geschrieben im Brockhaus unter dem Stichwort “Lemming”: “Gattungsgruppe der Wühlmäuse, kleine, bodenbewohnende Nagetiere Eurasiens und Nordamerikas. Der bis 15 cm lange skandinavische Berglemming (Lemmus lemmus) unternimmt nach periodisch alle 34 Jahre auftretenden Massenvermehrungen Wanderungen infolge Nahrungsknappheit und mangelnder Unterschlupfmöglichkeiten, bei denen viele Tiere den Tod finden.” Und im Film ist ergänzend dazu von einem Experten zu hören: “Zuweilen treibt es sie ins Meer. Dort finden sie den Tod, nicht weil sie nicht schwimmen können. Nein, sie sind sehr gute Schwimmer. Sie gehen zugrunde aus Erschöpfung.” Ach, – so ist das also. Fehlt noch die Erklärung, wie der Lemming in das Abflussrohr gelangen konnte. Sie wird, Gott sei dankt war der Experte fleißig, am Ende des Films geliefert, und siehe da, als sei mit dieser Erklärung der Fluch aufgehoben, fügt sich das Leben, als sei nicht viel passiert, wieder zusammen. Wie das metallischen Leben des monströs bösen Terminators (II), der als Bedrohung aus einer zukünftigen Welt die Gegenwart heimsucht und sich wieder zusammenfügt. Der gute Terminator mag ihn noch so oft vernichten, das Böse ist und bleibt präsent. Warum? Weil es das Böse gibt. Hier seine Existenz so gar nichts Rätselhaftes an sich hat. Schließlich weiß der Zuschauer, dass er im Film ist.

In ”Lemming” bleiben für den Zuschauer die Dinge bis zum Ende rätselhaft, gleichwohl er unentwegt mit Erklärungen in genau bemessener Dosierung gefüttert wird – nicht nur um den Lemming. Das Bedrohliche scheint aber mit jeder zusätzlichen Erklärung zu wachsen in geometrischer Progression. Wobei der Film den Zuschauer an keiner Stelle in hoffnungslose Orientierungslosigkeit treibt. Was bleibt, ist Unbehagen, das sich bis zum Schluss steigert, aber durch humoristische Sequenzen erträglich bleibt. Allein für die Figuren, nicht so für den Zuschauer, löst sich am Ende alles in Wohlgefallen und zur Zufriedenheit auf. Zumindest ihr Minenspiel und ihre gelassenen Bewegungen machen den Eindruck, als ruhten sie wieder in sich wie zu Beginn des Films, als hätte sich die Realität wieder zusammen gefügt. Wiewohl einfache Erklärungen, die der Film dem Zuschauer die ganze Zeit angedeihen lässt, sich bis kurz Ende des Films der Froschperspektive der Figuren entziehen, um sie zutiefst zu verunsichern: kleinere bis immer weniger nachvollziehbare Verhaltensstörungen hervorbringend, wobei Fiktion, Traum und Realität zunehmend ineinander übergehen, bis hin zum Wahn. Grauenhafte Dinge, die Alain erlebt, werden von der Außenwelt nicht verifiziert, gleichwohl gut erklärt. Gott sei Dank. Und doch wissen die Figuren bald nicht mehr, was sie voneinander haben, was sie voneinander erwarten können, warum sie (wie) miteinander umgehen. Da kommt alles auf einmal zusammen. Zugespitzt. Der Wahn mag Alain in Mitleidenschaft ziehen, nicht so die Welt um ihn herum. Die scheinen aus seiner Perspektive immerzu im Bilde. Zusammen mit den Strukturen lassen sie sich nicht ankränkeln. Sie handeln, haben Erklärungen und Verlautbarungen parat, während Alain sich der Welt ausgeliefert fühlt, die ihn tatsächlich an keiner Stelle und zu keinem Zeitpunkt von der Verpflichtung entbindet, sich in ihr zu verhalten. Wie auch immer, der Sozius ist gehalten sich damit abzufinden, die Folgen seiner Handlungen, Sprechakte etc. nicht – im Film immer weniger – einschätzen zu können, sich zu ver-rücken bis zu einem Punkt, wo ihm seine Unwissenheit selbst zur übermächtige Erklärung im Sinne erfolgreicher Therapie gerinnt, – die alles zuscheißt: das Ungesagte, die Leerstelle in der Struktur, im Gestus von Offenherzigkeit, der bei aller Naivität nichts entgeht. Die großen, dunklen Augen von Benedicte betrachten den toten Lemming, als wollten sie etwas beschwören. Mit einem Blick, der in sich ruht, die Dinge nimmt wie sie sind. Und sie da, er steht tatsächlich wieder auf.

Doch ist die Ruhe trügerisch. Der Fluch lässt sich nicht überlisten. Die Figuren lassen sich im Gestus in sich ruhender Vernunft zunehmend zu unüberlegten (Sprech)Handlungen: Verhaltensstörungen, Verletzungen aller Art bis hin zum (Selbst)Mord hinreißen, ohne dass die Struktur, das glatt opake Mienenspiel, auch nur im geringsten in Mitleidenschaft gezogen würde, bis zu einem Punkt, wo menschlich Verletzendes, Verletzungen buchstäblich nicht (mehr) wahrgenommen, einfach so hingenommen werden, mag die einzelne Kreatur in und für sich auch noch so leiden. So begegnet Richard Alain, nachdem er gerade seine Frau gefickt hat, worüber er sich letzte Gewissheit mit Hilfe der Überwachungskamera verschaffen wollte. Ja, Alain geht den Dingen ganz und gar auf den Grund. Als es denn zum Fick kommen sollte, stürzt die Kamera ab. Am nächsten Morgen schmeißt Richard ihm den Schrott auf den Schreibtisch: “Noch nicht ausgereift. Alain, sie enttäuschen mich.” Ein Satz, der jede weitere Frage, jede weitere Erklärung, überhaupt jeden zusätzlichen Satz erübrigt, weil er Realität umfassend beschreibt. Alain bleibt sprachlos zurück. Keine Leerstelle in der Struktur, die er besetzen könnte. Punkt aus.

Ja, der Sozius scheint immerzu getrieben, der Wirklichkeit in genialen Eingebungen mit Sätzen und Erklärungen beizukommen, die ihre Logik an und für sich mitführen: soziale Sachverhalte jeglicher Art werden denknotwendig akzeptiert, weil es sie gibt. Das gerät im Film zuweilen zur humoristischen Groteske, damit der Zuschauer auch mal lachen kann, um dann spannungsaufbauend mehr zu wissen als die Figur, der ganz und gar nicht zum Lachen zumute ist. So wie das wirkliche Leben natürlich nicht zum Lachen ist. Überall hält unsere Struktur Erklärungen in sich bereit, die sie unantastbar macht. Die Öffentlichkeit, sozusagen das Gehirn unserer Gesellschaft, bewahrt die Ruhe. Oh Wickert, was bist du putzig. Auch von LPDS und WASG hört man nichts aus Rücksichtnahme gegenüber Oskar, wenn BND-Präsident Fromm Informationen zur Bekämpfung des Terrors nutzen will, auch wenn sie durch Folter erpresst worden sind, selbstverständlich aus Ländern, in denen Folter die Regel. Wie im Film liefert er eine einfache Begründung gleich mit, die möglichen Widerspruch von vorn herein mit dem Makel des Irrationalen versieht. Wörtlich sagte er vor einigen Tagen, einer Information vom Nachrichtendienst eines Landes, das nicht den deutschen Rechtsprinzipien entspreche, könne man nicht ansehen, wie sie gewonnen worden sei. Der Satz besticht durch seine mitgeführte Logik, die alle Differenzierungen, das, was Wirklichkeit ausmacht, buchstäblich zuscheißt, zur glatt-opaken Oberfläche gerinnen lässt. Auf diese Weise werden Sätze um ihren (sozialen) Gehalt und Menschen um ihren Verstand gebracht: Strukturelles löst sich auf im Nebel von Indifferenz und anschließender Sprachlosigkeit, wenn Sätze so formuliert werden, dass sie der Kritik nicht zugänglich sind, aufgrund ihrer mitgeführten Logik auf sich selbst zielen und nur für sich sprechen. Sie sind ohne jeden theoretischen Gehalt. So redet die Öffentlichkeit, sogenannte Eliten, auch unsere Leute aus WASG und LPDS, man möchte sagen ausnahmslos, wenn sie über Programmatisches: soziale Sachverhalte reden, noch während sie unentwegt die Worte Pluralität und Pluralismus im Munde führen.
nachzulesen in: www.film-und-politik.de

Franz Witsch (Homepage) 11.7.06 11:33