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Inland Empire

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Nikki Grace auf LSD 30.4.07 18:45

„Ich fühle mich, als hätte mir jemand ins Gehirn gepisst“ sagt Laura Dern in einer Szene des aktuellen David Lynch Experimentalfilms „Inland Empire“. Dies könnte die Essenz des gesamten Werkes sein, das den Zuschauer auf einen gnadenlos surrealen Trip in die Innenwelten einer Frau in Schwierigkeiten befördert.

Laura Dern verkörpert die Hollywood Schauspielerin Nikki Grace, welche sich von der Hauptrolle in einem mysteriösen Remake eines nie vollendeten Liebesfilms ihr großes Comeback erhofft. Bald schon ereignen sich am Filmset geheimnisvolle Dinge, und Nikki Grace findet sich in einem Albtraum wieder, in dem nichts so ist, wie es scheint. Feste Zeit-, Raum- und Identitätsstrukturen werden kunstvoll aufgehoben, und der Zuschauer kann sich Nikkis vulgär verwirrter Aussage schließlich bedingungslos anschliessen und ihren Zustand nur zu gut nachempfinden.

Willkommen in der verrückten Welt des David Lynch, der mit dem episch ausufernden „Inland Empire“ sein bisher radikalstes und kontroversestes Kunstwerk geschaffen hat. Als Inspiration diente ihm der titelgebende Landstrich Südkaliforniens, den Laura Dern gemeinsam mit ihrem Ehemann bewohnt. Laut Lynchs Aussage soll ihm auch Laura Dern diese bereits dritte Zusammenarbeit vorgeschlagen haben. Gefilmt hat Lynch im Digital Video Verfahren, u.a. mit für den Heimbereich geeigneten Kameras von Sony. Dieser Vorgang ermöglichte Lynch neue inszenatorische Wege, weitaus mehr Flexibilität als zuvor und allem voran einen wesentlich geringeren finanziellen Aufwand. Das Ergebnis mag sich von der atemberaubend schönen Optik seiner bisherigen Filme unterscheiden, hat aber durchaus seinen Reiz, und darüber hinaus ist eigentlich alles wie gehabt. Mit dem einzigen Unterschied, dass Lynch seine eigenwillige Exzentrik dieses Mal mehr denn je auf die Spitze treibt.
Dabei bedient er sich sehr frei und teilweise ungewohnt intuitiv, wie auch willkürlich, gängiger Herangehensweisen, die aus der bildenden Kunst bekannt sind und suggestive Effekte schaffen. Vielschichtige thematische und motivische Stilmittel ergeben ein abstraktes Gesamtes, das von Gewalt, Sexualität, unterbewussten Vorgängen, Irrationalität, Einfallsreichtum, Banalität und Tiefsinnigkeit, groteskem Humor und verstörendem Horror, Mythen, Improvisationen und Zufällen, nicht deutlich aufgelösten Metaphern, Parabeln, Paradoxien, Popkultur und einer kühnen Montage gekennzeichnet ist. Rationale Auflösungen und sinnvolle Schlüssigkeit wird und soll der Zuschauer nicht finden, sondern sich vielmehr gemeinsam mit der Protagonistin Nikki Grace auf eine Reise begeben, die in ihren besten Momenten an einen wilden LSD Trip erinnert. Dennoch streut Lynch immerzu Hinweise in seinen Film, die neben multiplen Interpretationsoptionen bei genauem Hinsehen zumindest im Ansatz klare Antworten auf bestimmte aufgeworfene Fragen liefern. Auch bezeugt „Inland Empire“ einmal mehr Lynchs intensive Auseinandersetzung mit dem Reich der Träume, finden sich doch im Film sehr viele, vollendet auf den Punkt gebrachte Phänomene aus der Tiefenpsychologie wieder. Sehr sympathisch ist auch, dass Lynch seinen Film um einen subtilen selbstironischen Grundton bereichert hat. Wirklich ernst nimmt „Inland Empire“ sich nur selten, reflektiert oft Lynchs vorangegangene Arbeiten und sein gesamtes Schaffen, kristallisiert sich in diesem Kontext deutlich als ein Pendant - passendes Gegenstück - zu „Mulholland Drive“ heraus - vielleicht sogar als bewusste Erweiterung dieses von vielen Seiten gelobten Filmpuzzles. Dass die sinnliche „Mulholland Drive“ Hauptdarstellerin Laura Harring im Laufe des Nachspanns an der Seite von Laura Dern zu sehen ist, ist kein Zufall.

„Inland Empire“ beeindruckt ferner durch eine grandiose Besetzung. Neben internationalen Stars wie Jeremy Irons, dem coolen Justin Theroux, Nastassja Kinski, oder Julia Ormond agieren große Darsteller des zeitgenössischen, polnischen Kinos. Allen voran Karolina Gruszka vollbringt als „weinendes Mädchen vor einem Fernsehbildschirm“ eine faszinierende Leistung mit melancholischer Präsenz, die für einige magische Gänsehaut Momente sorgen wird.
Der unübertroffene Star des Filmes ist allerdings Hauptdarstellerin Laura Dern, die leider viel zu selten die richtigen Rollen bekommt und somit viel zu selten zeigen darf, dass sie zu den begabtesten und facettenreichsten Darstellerinnen ihrer Generation gehört. Wie sie „Inland Empire“ größtenteils ganz alleine trägt, mit welcher Intensität, Wandlungsfähigkeit und Hingabe sie Nikkis unterschiedliche Identitäten verkörpert, ist nur schwer in Worte zu fassen. Wahrscheinlich ist dies tatsächlich die beste Rolle ihrer Karriere, und eine der besten weiblichen Rolleninterpretationen der vergangenen Kinojahre.

Zusammengefasst ist „Inland Empire“ ein als „work in progress“ angelegter Patchwork-Film mit Einschüben aus bizarren Kurzfilmen, die der Regisseur zuvor für seine Homepage gedreht hatte. Ein Film im Film Experiment, das ohne echtes Drehbuch auskommt, sowohl in Los Angeles wie auch in der polnischen Stadt Lodz verwirklicht wurde und sich mitunter als eine latente Hommage an das surreale, polnische Kino lesen lässt, an dem sich Lynch teilweise deutlich orientiert hat.
„Inland Empire“ zu werten, ist genau genommen unmöglich. Der abstrus bizarre Film pendelt irgendwo zwischen unterschiedlichen Extremen, ist ein avantgardistisches, hypnotisches Kunstwerk, mit dem Lynch entweder seiner Zeit vorangreift, oder zumindest etwas geschaffen hat, das in der Form einzigartig bleiben wird. Auf jeden Fall die bisher persönlichste Bildcollage des Regisseurs, welche sein gesamtes Schaffen vorerst zu einem Höhepunkt zusammen führt. Ein Film, der viel Spaß bereiten kann, wenn man als Zuschauer willens ist, sich auf ihn einzulassen. Auch wenn das Lachen bisweilen im Halse stecken bleibt angesichts immens verstörender Bilder, irritierender Schnitte oder eines in höchstem Maße poetischen und emotionalen Finales, das die ganze Magie des Kinos herauf beschwört.
Ausgezeichnet mit dem „National Society of Film Critics Award“ als bester Experimentalfilm des Jahres und veredelt mit dem Prädikat "Besonders wertvoll".

30.4.07 18:45