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Der Traum ist aus - Die Erben der Scherben

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BRINGT DAS BOOT IN DEN WIND... Dietmar Kesten 28.9.04 17:21

DER TRAUM IST AUS - DIE ERBEN DER SCHERBEN.

BRINGT DAS BOOT IN DEN WIND... SEI NICHT TRAURIG MEIN KIND

von DIETMAR KESTEN, GELSENKIRCHEN, 28. SEPTEMBER 2004.

Zum Tod von Rio REISER (9. Januar 1950 - 22. 8. 1996)
schrieb ich in meinem Essay „Die Dämmerung hat längst
begonnen. Der Mensch ratlos vor der großen Mauer des
Vergessens“:
„Als der Rockmusiker Rio Reiser starb, waren Journalisten
schnell dazu bereit, aus ihm einen Schlagersänger zu machen,
der vom Polit-Rock zum König von Deutschland (der Song
erschien auf der ersten Solo CD von Reiser, 1986) mutierte.
Wie kann ein Rockmusiker Schlagersänger werden?
Er müsste sich selbst verleugnen und seine eigene Identität
aufgeben.“ (KESTEN, 1996).
Letzteres hatte REISER nie getan.

Die Geschichte um die legendäre Berliner Polit-Rock-Gruppe
„Ton Steine Scherben“ ist die Geschichte ihres Sänger
Rio REISER (Ralph MÖBIUS).
1965 spielte REISER bereits Rockmusik mit englischen
Texten. In Berlin war er 1967 maßgeblich an der
Rockoper „Robinson 2000“ beteilig, die damals die erste
weltweite Beat-Oper war. Noch im gleichen Jahr wurden
REISER und Lanrue STEITZ (Gitarre bei TSS) Mitglieder
von „Hoffmanns Comic Theater“, für das sie Songs schrieben.
Ein Jahr später stieß Kai SICHTERMANN (Bass bei TSS)
zu dieser Gruppe. In dem Stück „Rita und Paul“ kam erstmals
der Song „Macht kaputt was euch kaputt macht“ und
„Wir streiken“ vor.
Mit dem Schlagzeuger Wolfgang SEIDEL wurde 1970
die Single „Macht kaputt was euch kaputt macht“ und
„Wir streiken“ eingespielt und im Eigenvertrieb abgesetzt.

„Macht kaputt was euch kaputt macht“, konnte als Durchbruch
der Gruppe „Ton Stein Scherben“ gelten. Die Single wurde zum
Renner und fand bei der damaligen linken Bewegung schnellen
Anklang.
Aufgrund des anarchopolitischen Inhalts und der
gesellschaftskritischen Aussagen avancierte die Gruppe auch
schnell zur führenden Formation der Subkultur-Bands.
Rio REISER soll dazu gesagt haben: „Wir hatten (damals) die
Hand am Puls. Wir wohnten im Arbeiterviertel Kreuzberg und
hatten die gleichen Probleme und den gleichen Frust wie
unser Publikum.“ (zitiert nach: „Rock in Deutschland“,
1984, S. 383).

1970 ließ sich die Gruppe durch professionelle Veranstalter
für das Rock-Festival auf Fehmarn anwerben. Dort trat u. a.
auch Jimi HENDRIX und andere Gruppen auf, die schon
lange vor dem Festival Geld und Vertrag in der Tasche hatten.
„Ton Stein Scherben“ bekam damals für diesen Gig
keinen Pfennig, weil der Veranstalter mit der Kasse das Weite
suchte und der Gruppe nur einen ungedeckten Scheck
hinterließ.
Die Gruppe, die als letzte auftrat, spielte u. a. „Macht kaputt
was euch kaputt macht“. Das frustrierte Publikum musste dies
wohl als Aufforderung verstanden haben, das Organisationszentrum
anzuzünden.
Die Songs der Gruppe hatten aber weiterhin eine gewisse
Signalwirkung, wenn etwa daran gedacht wird, dass die
Hausbesetzerszene ab 1971 deren Songs rauf- und runterspielte.

Die im September 1971 veröffentlichte erste LP
„Warum geht es mir so dreckig“, deren erste Seite Live in
der Berliner Alten Mensa mitgeschnitten wurde, enthielt die
Songs:
„Ich will nicht werden was mein Alter ist“, „Warum geht es
mir so dreckig“, „Der Kampf geht weiter“, „Macht kaputt
was euch kaputt macht“, „Mein Name ist Mensch“,
„Sklavenhändler“, „Alles verändert sich“, Solidarität“.
Die Stücke waren insgesamt Definitionsversuche mit
inhaltlichen Aussagen, eine raffinierte Mischung aus
politischen Versatzstücken und antikapitalistische
Verklärung.
Das kristallisierte sich in dem Song „Alles verändert sich“
relativ deutlich heraus. Aber gleichzeitig war das auch
damalige politische Alternative; denn die „Freiheit
ist unser Ziel“.

1971 verließ der Schlagzeuger Wolf SEQUENZA
die Gruppe, die fortan nun mit verschiedenen Drummern
arbeitete. Zudem integrierte sie Jörg SCHLOTTERER
in die Gruppe, der für Flöte, Posaune und Perkussion
verantwortlich war.
Zusätzlich war Nicolaus PALLAT für die Organisation
der Gruppe verantwortlich.
Dieser wurde im Dezember 1971 im Fernsehen dadurch
bekannt, als er nach einer hitzigen Debatte mit einem
Beil den Fernsehtisch des WDR-Fernsehens spaltete.
Spätestens nach der 1972er Tour begann es in der Gruppe
zu kriseln. Zum Advent 1972 erschien die Doppel-LP
„Keine Macht für niemand.“
Es gab kaum noch Spontaneität, die Gigs waren eingefahren
und die erste Welle des Zuspruchs war abgeflaut.
Im Frühjahr 1974 gaben „Ton Steine Scherben“ ein
sogenanntes Comeback-Konzert in Berlin.
Das Publikum war gespalten, die musikalischen Vorreiter
der Revolution waren nicht mehr angesagt.

Zwischen Mai 1974 und April 1975 produzierte die Gruppe
in eigener Regie unter dem Label „David Volksmund Produktion“
ihr drittes Album „Wenn die Nacht am tiefsten....“
Die lyrischen Texte waren zum Teil depressiv. Und in
gewisser Weise ließen sie sich auch als Abkehr vom politischen
Kampf deuten. Aber mehr und mehr kam die Resignation
hier zum Vorschein, die in die Textzeile einmündete „und das
Land, das ich suche, ist in weiter Ferne... wohin soll ich
gehen.“
Die Gruppe ging noch einmal auf Tour. 1976 waren sie u. a.
auch in Hamburg (November) zu hören.
Dort kam es auch zum Eklat, als sich die Gemüter
der Zuhörer dadurch erhitzten, weil sich die Gruppe von
einem 3-köpfigen Mädchenchor unterstützen ließ.
Das Publikum funktionierte kurzerhand das Konzert um
und es folgte eine Diskussion über die „Rolle der Frau“.
Diese Vorfälle dürften mit dazu beigetragen haben, dass sich
„Ton Steine Scherben“ von der Bühne zurückzogen.
Von permanenten Schulden geplagt, zog es sie ins
nordische Fresenhagen. Dort gründeten sie ihr eigenes
Musik-Label.
U. a. erschienen dort „Mannstoll“ (1977).
1977 spielte Rio in dem Spielfilm von Roland KOLLER
„Johnny West“ die Titelrolle.
„Kommen sie schnell“ (1979/1980) wurde als Werbespot
für die Grünen eingespielt.

Im Januar 1981 meldeten sich „Ton Steine Scherben“ mit
einem Doppelalbum zurück.
Der dort enthaltene Song „Der Turm stürzt ein“ markiert
so etwas wie eine Wende. Man kann auch sagen:
die damalige Zeit wurde in melancholische Songs umgesetzt.
1982, bevor sich die Gruppe auflöste, gab es noch
eine Deutschlandtour durch mehr als 40 Städte.
Im Frühling 1982 übernimmt Claudia ROTH (Schneewittchen),
später im Bundesvorstand der Grünen, die Organisation
der Gruppe.
Die „beste deutsche Band“, meinte damals SOUNDS
würde „vergleichbar mit MC 5“ sein.
Einen Knüller legten „Ton Steine Scherben“ mit
dem Album „Scherben“ (1983) vor.
Die besten Songs auf dem Album waren:
„Wo sind wir jetzt“, „Verboten“, „La Reponse“,
aber vor allem „Lass uns ein Wunder sein“.
Hier findet der Liebhaber alles, was man von einem
Deutschrock-Album erwartet: schnörkelloser Rock
verbunden mit lyrischen Songs, Schmerz,
Liebe, Verzweifelung, Aufbegehren, Liebe, Traum.
Der Song „Lass uns ein Wunder sein“, ist ein phänomenales
Stück. Hier spiegelt sich viel von der Wirklichkeit des Lebens
wider.
Musikalisch perfekt umgesetzt zeigt hier vor allem Rio
REISER seine Ausnahmeerscheinung als Sänger.

Von April bis Juni 1983 tourte die Gruppe letztmalig.
U. a. mit „Schroeder Roadshow“ (später nur „Schröder“)
um den Sänger Gerd KÖSTER („Fette Ratten“,
„Bonn bei Nach“, „Schrei dich frei“).
Anfang 1983 spielten „Ton Steine Scherben“
zur Menschenkette in Ulm vor ca. 150. 000 Menschen
auf.
Ab März 1984 produzieren Anette HUMPE und
Gareth JONES die Single „Dr. Sommer“.
Rio trat danach noch öfter als Solist auf, bevor er
u. a. begann für Marianne ROSENBERG und für
Anette HUMPE zu schreiben.
Es erscheint noch eine Live-LP vom 15./16. Juni
1985, die in Berlin aufgenommen wird.
Seine erste Solo-CD legte RIO REISER
1986 vor. „Rio I“ enthielt u. a. “Junimond”.
Mit “Blinder Passagier” (1987) legte er ein
exzellentes Album vor. Die Songs „Übers Meer“,
„Ich denk an Dich“ und „Stiller Raum“ gehörten
sicherlich mit zu seinen künstlerischen Höhepunkten,
die mit „Halt Dich an deiner Liebe fest“ (1975)
eine Einheit zu bilden scheinen.

Und sie markieren auch seine Schaffensperiode.
Die Texte gehören zur modernen „deutschen
Lyrik“. Eigentlich benutzte Werner FAULSTRICH
in seinen Tübinger Vorlesungen zur Rockgeschichte
diese Formulierung für Udo LINDENBERG.
Sie passt hier aber besser.
Weitere Alben waren: „Rio“ (1990) mit
„Zauberland“ und „Sonnenallee“.
„Durch die Wand“ (1991), „Über alles“ (1993) mit
„Irrenanstalt“ und „Du-Über alles“,
„Himmel und Hölle“ (1995). Nach seinem Tod erschien
„Unter Geiern“ (1997).
Später erschienen noch Zusammenschnitte
von Solokonzerten und anderen Stücken, so:
„Am Piano I“ (1998), „Am Piano II (1999).

Dieser Hintergrund erscheint für den Film wichtig.
Regisseur Christoph SCHUCH legt einen angagierten
Film vor, der diesen hier nachgezeichneten Rückgriff
zwar nicht im Detail enthält, doch er stellt mit den
„Scherben“ die Frage: was aus diesem Engagement
und der Idee übriggeblieben ist?
Es kommen seine Bandmitglieder zu Wort, vor allem die
Musik.
Was fehlt ist die konsequente Einordnung der Musik der
„Ton Steine Scherben“ in die damalige politische Landschaft.
Bedenkt man, dass bis zum letzten Album 1983 sich die
gesellschaftlichen Verhältnisse in der damaligen BRD
radikal verändert hatten, dann sind die Versäumnisse
des Films an diesem Punkt umso größer.
Die damalige „kulturelle Linke“ war sicherlich nicht auf
die Musik der „Ton Steine Scherben“ zugeschnitten.
Sie organisierte eine kunterbunte Vielfalt neuer Ansätze,
auf die der Film nur unzureichend eingeht.
Allerdings stand sicherlich die Musik im Vordergrund.

Der Versuch einer Verzahnung von mehreren
Musikdekaden ist nicht besonders geglückt.
Es spielen u. a. auf: „Die Sterne“, „Element of Crime“,
„Teutonic“, „Das Department” und einige andere.
„Die Erben der Scherben“ waren sie nicht. Ihre eigenständige
Musik hatte auch wenig mit „Ton Steine Scherben“
gemeinsam, wenn etwa an „Element of Crime“
gedacht wird. Sie ist doch zu sehr auf den Kommerz
zugeschnitten, was die Produktionen seit 1990 zeigen.

Fazit: Die Musik der Gruppe bleibt lebendig, weil sie
den Zeitgeist atmete.
Rio Reiser war ein begnadeter Rockpoet.
Seine melancholischen Stücke sind auch heute noch
allemal hörenswert.

Dietmar Kesten 28.9.04 17:21