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Verschollen

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ROBINSONADE OHNE ROBINSON. Dietmar Kesten 2.1.05 13:25

VERSCHOLLEN

ROBINSONADE OHNE ROBINSON

von DIETMAR KESTEN, GELSENKIRCHEN, 2. JANUAR 2005.

Unter einer Robinsonade wird in der Regel die Eingeschlossenheit
auf einer Insel bezeichnet.
Sie geht als literarisches Motiv vermutlich auf den Roman
von Daniel DEFOE zurück, der 1719 „Robinson Crusoe“
schrieb.
Der schiffbrüchige Robinson versucht auf einer einsamen Insel zu
überleben, die noch nicht untergegangenen Reste vom Wrack,
Kleidung, Werkzeug, Bücher und einiges andere zu retten, um sich
selbst vor der Verrohung zu bewahren. Den Einheimischen, den
er später trifft, nennt er ‚Freitag’ (nach dem Wochentag
seines Auffindens). Der Roman wirft die generelle Frage nach dem
Konflikt zwischen Natur und Kultur, Zivilisation und Natürlichkeit,
Überleben in der Wildnis auf, und er löst ihn zugunsten der
Zivilisiertheit.
Vor diesem Hintergrund hat der Roman von Daniel DEFOE
einen wahren Sturm auf das Kino und das Fernsehen ausgeübt.
Bereits 1947 wurde in der UdSSR „Robinzon Kruzo“ verfilmt.
Fürs ZDF lief 1964 der Vierteiler „Robinson Crusoe“.
1988 folgte „Robinson Crusoe - Reise ins Abenteuer“.
Die bekanntesten Filmfassungen dürften sein:
„Robinson Crusoe“ (Regie: Luis BUNUEL, 1952),
„Robinson Crusoe“(Regie : George MILLERT/Rodney K. HARDY,
1996), „Robinson Crusoe” (Regie: Thierry CHABERT, 2002).

Der Schiffbrüchige der Neuzeit wird von Robert ZEMECKIS
(„Zurück in die Zukunft“, 1985ff., „Forrest Gump“, 1994,
„Contact“, 1998, „Schatten der Wahrheit“, 1999, „Ghost Ship“, 2002)
als Episode eines Flugzeuggestrandeten geschildert.
Der ‚Federal-Express’ Manager Chuck Noland (Tom HANKS) rettet
sich nach einem Absturz auf eine einsame Insel, wo er fernab jeglicher
Zivilisation nun um das nackte Überleben kämpft. Erst nach vier
Jahren steht die Rettung bevor.
Während dieser Zeit ist ein Volleyball, der in einem Paket
angeschwemmt wird, sein einziger Ansprechpartner.
Hier könnte die Geschichte des Einsamen beginnen, die ähnlich
wie in den frühen Filmvorlagen reichlich Stoff für die
Befindlichkeit eines Menschen in absoluter Abgeschiedenheit
und Einsamkeit zu bieten hätte.
Doch stattdessen legt ZEMECKIS einen Ausflug ins Grüne vor,
eine weiteres Revival des Abenteuerkinos mit Naherholungsgebieten.

Irgendwann hat man genug von dieser Form des amerikanischen
Films, wo nach alter Trapper-Manier ewige Prüfungen im
Servival-Stil bestanden werden müssen, damit am Ende die Rettung
stehen kann.
Tom HANKS kämpft auf einer Insel, die nur mit Kokospalmen und
Schlingpflanzen bewachsen ist, und auf die er sich während der
Regenzeit nur in schroffe Höhlenfelsen zurückziehen kann, um seine
psychische und physische Existenz.
Neben den Selbstgesprächen und dem unermüdlichen Dialog mit
dem Volleyball gibt es nichts besonderes zu hören oder zu bestaunen.
Man sieht HANKS bei der Nahrungsbeschaffung, Regenschutzbau,
beim Feuer machen. Und die wenigen Kurierpakete, die ans Land
geschwemmt werden, helfen ihm, den Gedanken an die Zivilisation
nicht zu verlieren.
Und über all diesem Blick durch die Kamera wird er endlich durch
die Melancholie seiner eigenen One-Man Show eingeholt.
Warum läuft Tom HANKS nicht Amok?
Wenn ZEMECKIS den modernen Robinson mit Verwirrungen
und Verstrickungen bedacht hätte, die rechtzeitig diagnostiziert
worden wären, dann wäre das Drama konträr zur
Konsumgesellschaft ein Fanal gewesen. Denn was machen
Menschen in absoluter Einsamkeit, wie verhalten sie sich, wie
wirkt sie sich auf ihre gesamte Befindlichkeit aus, welches Trauma
steht am Ende?
Wer darauf gewartet hat, das nun ein Psychogramm entwickelt
wird, der muss bitter enttäuscht werden.

Noland geht in den Bildern unter. Zwar sind Verzweiflung,
Wut und Kampfeswillen aus nahen, halbnahen und weiten
Einstellungen durchaus glaubhaft, aber sie können keine
Anteilnahme erzeugen. Das Geflecht aus Blicken und Bildern
ist aufgesetzt. Mimik und Gesten sind nur Beiwerk, und das
nicht sonderlich gute Drehbuch vermag nur dieser oder jenen
Szene eine glaubhafte Realität vermitteln.
Der Kampf mit der Natur, ist es Ernst oder nur Parodie?
Problematisiert werden nur wenige Fragen. Und wenn man
genau hinsieht, dann ist der Medienmensch HANKS
furchtbar einschläfernd.
Das Mainstream-Kino aus Action, Abenteuer und Sedimenten
im Großformat hat hier nur deutliche Schwächen zu bieten.
Man könnte hinzufügen: die besten Filme sind bekanntlich
Stummfilme. Und die besten Momente in den Tonfilmen,
sind jene, in denen nicht gesprochen wird. ZEMECKIS
macht in „Verschollen“ weder das eine, noch das andere.
So entstand ein kleines, beiläufiges Filmchen, wo am Ende
Noland Rettung und Heimkehr und das Wiedersehen mit
seiner Verlobten Kelly (Helen HUNT) äußerst unrühmlich
in Hollywoodmanier feiern darf.

Selbst dann, wenn man „Verschollen“ einen tieferen Sinn
bescheinigen sollte, so bleibt er doch blass und nur an der
Oberfläche plätschernd.
Der Film hat keine Tiefe. Und die schweigende Welt der
Insel und des Meers lassen keinen staunenden Blick zu.
Vielleicht ist man zu übersättigt? Bestimmt aber lässt er uns
nicht zu neuen Entdeckern der Einsamkeit werden.
Es bleibt alles in der Spekulation stecken.
Wer zu neugierig ist, oder unschuldig wirkt, wird mit den
Hollywoodströme des Fühlens und Denkens konfrontiert. Da
gibt es kein Entrinnen mehr. Selbst für Tom HANKS nicht,
der gegen Ende des Films sich an den Rändern der
Wohlstandsgesellschaft wieder einfindet.

Wahnsinn und Einsamkeit, Ahnung, Flackern am Horizont,
Kultur und Abwesenheit, harmlose Gewitter und Revolte
findet man im übrigen gut thematisiert bei GOLDING
(„Herr der Fliegen“) wieder. Der Film unter der Regie
von Peter BROOK (1963) verfilmt (Remake 1990, Regie:
Harry HOOK), problematisiert die anerzogene Kultur, die im
stetigen Widerstreit mit jeder Art von Zivilisation steht. Nichts
davon ist bei ZEMECKIS zu finden. Tragische Töne und
der Blick ins Unterbewusste war bei BROOK ein
Meilenstein des Filmschaffens. Tom HANKS Auftritt ist nur
eine Komödie im Mai. Sein Kampf wird weder gewonnen noch
verloren. Er wird einfach beendet.

Fazit:

Eines schönen Morgens wacht Noland auf. Ein wildes
Herz in einem verrückten Kopf beginnt zu schlagen.
Man muss diesen Film, wenn es ihn geben sollte, gesehen
haben. Erst dann beginnt man zu begreifen, dass das meiste,
was man in Verschollen gesehen hat, falsch war.

Dietmar Kesten 2.1.05 13:25