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Identität

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Identität Dietmar Kesten 20.9.03 14:16

IDENTITÄT

DER LETZTE VERSUCH?

von DIETMAR KESTEN, GELSENKIRCHEN, 20. SEPTEMBER 2003.

Ein Motel ist Ausgangs- und Endpunkt einer Geschichte, in dem
es sich prima sterben lässt.
In „Identität“ sind es eine Reihe Übernachtungsgäste, die nach dem
Prinzip der ‚zehn kleinen Negerlein’ fortan nun massakriert werden.
Sie sitzen in einem Motel fest, weil ein Gewitter, überflutete Straßen
und ein Funkloch ihr Fortkommen verhindern. Die Schockeffekte
beginnen und nach dem ersten Blutrausch fragt man sich:
welche Verbindung besteht unter den Eingeschlossenen?
Bei der Suche nach den Antworten fördert der Film eine Reihe
von Wahnsystemen und Alpträumen hervor, die den Schrecken ins
Reich des Grauens verlagern, dazu noch schrecklich genau, eingepasst
in die Flut der Horror-Filme, die dem Fluss des Geschehens folgen.
Selbst die beruhigende Erkenntnis, dass die bedrohliche
Atmosphäre von „Identität“ und die Auflösung sich in raffinierte
Verwirrung verflüchtigt, ist kein Hinweis darauf, dass der
allerletzte Schock im Kino vorbei ist.

Denn alles was bisher in ‚Splatter Movies’ gezeigt wurde, kann noch
längst nicht als die Grenze bezeichnet werden, die als diabolische Farce
inszeniert sich als Schnappschuss der Hölle darstellt.
Das schmatzende Vernichtungswerk ist im Film kaum aus dem
Bilderrahmen, dem es entstiegen ist, verbannt.
Der neue Horror, oder müsste man sagen, der (neu-)artige
Horror (?), gehört zu den körperfressenden Movies, die zwar
die ‚Freddy-Krueger’ Saga vom Freitag dem dreizehnten oder eines
anderen Werkes der Zombie-Industrie hinter sich gelassen haben,
doch die Schwelle, dass alles teilbar ist, was spritzt, ist immer noch
erst der Anfang. Ein letztes Aufbäumen ist nicht in Sicht.
Und damit haben die Blut-Orgien jene Stufe erreicht, wo wir als
Opferlamm im Kino alle Schreckenssekunden durcherleben, die
sich in ihrer Entsetzlichkeit mechanisch konstruieren.
Und zu dieser Mechanik gehört das Spiel mit den vertrauten
Motiven.

Mehr als 40 Jahre sind vergangen, seit Alfred HITCHCOCK den
Duschmord in „Psycho“ (1960) aus Dutzenden von Einstellungen
zusammengesetzt hatte, die alle den einen, entscheidenden
Vorgang, von dem die Szene handelt, nur suggerierten, ohne ihn
zu zeigen.
Das Spiel mit der menschlichen Angst schien sich stabilisiert zu
haben. Und im Kino konnte man sich trotzdem entspannen!
Seit dieser Zeit hat das Kino der Grausamkeiten ungemeine
Fortschritte gemacht. HITCHOCK wollte in „Frenzy“ (1971) eine
Großaufnahme vom Mund einer erwürgten Frau zeigen, aus dem
die speicheltropfende Zunge hängt. Sein Produzent verbot es
ihm.
Heute lacht man darüber, weil die Macher dieser Gattungen,
den Stoff und das Medium Film als Hort der Exesse der Gewalt
verstehen.
Aus der vermeintlichen Schwäche eines Alfred HITCHCOCK
zieht man hinterrücks das Syndrom der Perversion und der
Faszination der Killer und ihrer ‚Präzisionsarbeit’, die Augenlust
und Nervenschock gleichermaßen produzieren.

Dieser Film als einzige Bluttat ließe sich mühelos vergessen,
wenn es nicht die Zeichen der Zeit gäbe!
Jüngst hat nun wieder ein Durchgeknallter mit einem Samurai-Schwert
Herr über Leben und Tod gespielt. Und die alltäglichen, plötzlichen
und wahllosen Überfälle auf harmlose Bürger enthüllen auch die
Skrupellosigkeit dieser Triebtäter, die mit der Pistole oder mit einem
Messer in der Hand zum äußersten entschlossen scheinen.
Jene Wahlverwandtschaft mit dem Horror im Film ist bestimmt kein
Zufall, und wenn die trügerische Tarnung abfällt, kristallisiert sich
heraus, dass der heutige ‚freundliche Alltag’ in Wirklichkeit nur
Kulisse für das Entsetzliche, für den Horror der gesellschaftlichen
Verhältnisse ist.
Die Gegenwart ist somit Furcht und Zittern, vor allem da, wo sich
alles in ein Dunkel hüllt, aus dem es kein entweichen zu geben
scheint.
Auf mysteriöse Weise quälen uns diese Filme mit der Präsenz von
Mord und Totschlag. Und hinterlassen ein ganzes Arsenal an
Schuldgefühlen, denen wir kaum Herr werden.
Das neurotische oder psychotische Fehlverhalten der Killer der
heutigen Tage entspricht eben spiegelbildlich den Blendungen
dieser Movies.

Die Rückkehr zum Motel, in dem die in die Handlung verwickelten
Personen unweigerlich in die unschuldigen Selbstanalyse
(der Geburtstag verbindet sie alle) hineingeraten, verweist unverhohlen
auf den Hexenkessel des Horrors: alles ist Inszenierung, alles Maske.
Der Horror legt sie herein. Das sagartige Motel, das vergangene
Ereignisse noch einmal reflektiert, ist das Konfrontationsgesetz, dass
blutige Morde, Sexualität und Grausamkeit mit einer ästhetisierenden
Allianz umwebt; denn die ‚unschuldig Schuldigen’ sind nur
Spielball der voyeuristischen und panischen Hilflosigkeit der
Gaffer unserer Tage.
Die um Hilfe flehenden Opfer sind eben auch jenen genretypischen
Standardsituationen ausgesetzt, die wir als beklemmend empfinden,
aber nur selbstreflexiv begleiten: es wird schon nicht so schlimm sein!!
Diese schmerzhaften und überkonstruierten Dramaturgien machen
das tödliche Alltagswerkzeug im Film und in der Realität aus.

Halluzinationen und Angsträume, die seit Sigmund FREUD,
Erich FROMM, Joseph BREUER und anderen Identitätskrisen des
modernen Menschen auslösen können, hatte noch
Jack NICHOLSON in „Shining“ (1980, Regie: Stanley KUBRICK)
perfekt verarbeitet und in Szene gesetzt.
Der Film, der nur am Rande ein Horror-Film war, und deshalb
womöglich auch oft zu Missverständnissen führte, ist eine der
besten Studien über die Wechselwirkung von Schein und Sein,
Realität und Illusion.
Das Spiel mit der tumben Seele, die traumatischen Abgründe,
die sich jenseits des gesunden Menschenverstandes im verborgenen
offenbaren, ist natürlich auch hier mit Fetzen der gesellschaftlichen
Verhältnisse verwoben. Doch die suggestive Symphonie des
Schreckens ist nur angedeutet, hat aber in der Zwischenzeit einen
nahezu globalen Charakter bekommen, und ist im Horror-Spektakel
dieser Zeit die zwanghafte Wiederholung des postmodernen
Kreuzzuges der Warengesellschaft. Und man kann es kaum begreifen:
das Gewaltmonopol liegt in „Identität“ in den Händen eines jungen
Menschen, eines Kindes.
Im übrigen ist auch dies ein aktuelles Phänomen. Das erregt mehr
Abscheu als Verständnis. Dem Horrorfilm mag man selbst das nicht
verzeihen.
Zwar ist auch letztlich die Verwandlung angesagt, wenn die Personalität
aufgelöst wird, doch im Zuge des Marodierens wirkt das eher
lächerlich.

Fazit: Die entscheidenden Schlachten im Horror-Movie stehen vermutlich
noch bevor. „Identität“ dürfte mit zu diesen Vorstufen gehören.
Er ist pathologisch-grobschlächtig. Die Anleihen an David LYNCH sind
unübersehbar. Regisseur James MANGOLD („Cop Land“, 1997 mit
Sylvester Stallone als Sheriff Freddy Hetlin) setzt auf blutrünstige
Schockeffekte, die nur ein Ziel haben dürften: die Kassen
der Produzenten zu füllen.
Die wirklichen Gefahren außerhalb des Kinos sind offenbar schon so
bedrohlich geworden, dass die reinigenden Konflikte im Kino nicht
mehr glaubhaft erscheinen. „Identität“ ist genau deshalb ein schlechter
Film, der brutale Gewaltrituale zelebriert und der Angst-Lust freien
Lauf lässt.

Dietmar Kesten 20.9.03 14:16