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Nicht auflegen!

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Nicht auflegen! Dietmar Kesten 24.12.03 11:00
Nicht auflegen! werner 24.12.03 14:47
Nicht auflegen! Dietmar Kesten 25.12.03 18:13

NICHT AUFLEGEN!

DIE TIEFEN DES ENTSETZENS UND DIE HÖHEN DER PANIK

von DIETMAR KESTEN, GELSENKIRCHEN, 9. AUGUST 2003.

Ein Anruf in einer Telefonzelle am New Yorker Times Square,
den der Agenturchef Stu (Colin FARRELL) annimmt, bringt ihn
in Lebensgefahr. Dort, wo er sonst seine Geliebte kontaktiert,
wird er Opfer einer schier unglaublichen Erpressung. Er wird
von einem Unbekannten dazu gedrängt, seiner Ehefrau seinen
schlechten Charakter zu offenbaren, andernfalls würde er in der
Telefonzelle erschossen. Um sein Anliegen glaubhaft zu machen,
erschießt der Killer einen Zuhälter.
Die eigentliche Story beginnt.

Die Handlung, die Regisseur Joel SCHUMACHER
(„Falling Down“ 1993, „Batman Forever“ 1995, “Batman&Robin” 1997,
“8MM” 1999) in “Nicht auflegen” problematisiert, ist einfach gestrickt und
nicht unbedingt an den Haaren herbeigezogen: ein Mensch wird über ein
Telefon mit der Unausweichlichkeit seines Todes konfrontiert, wenn er
nicht die Forderungen eines Unbekannten erfüllt.
Es geht nicht, wie man vielleicht zu Anfang vermuten könnte, um
materielle Forderungen, sondern schlicht und einfach um Erfüllung
von normgerechtem Verhalten, wozu Stu genötigt wird.
Komplizierter wird die Situation dadurch, dass er die Telefonzelle
nicht verlassen darf. Und durch diese Sichtweise, entwickelt sich
ein packender Thriller.

„Nicht auflegen“ ist ein klaustrophobischer Film. (1)
Er spielt primär in einer Telefonzelle. Ein Kammerspiel mit
Zuschauern!
Wer einschlägige Lexika aufschlägt, der findet unter
Klaustrophobie den Eintrag: „Klaustrophobie ist die Angst, eingeschlossen
zu sein... Allgemeine Bezeichnung für die Angst, sich in einem
geschlossenen Raum aufzuhalten. Dies gilt z. B. für die Angst in
Fahrstühlen, Eisenbahnen oder Bussen, in Konzert- oder Kinosälen und
in kleinen Geschäften, insbesondere dann, wenn dies mit
Menschenansammlungen verbunden ist.“
Die Telefonzelle mutiert hier zum schicksalhaften Ort, in der Stu auf
Gedeih und Verderb mit dem Peiniger, seinem potentiellen Mörder
verbunden ist.
Der Mord wird zur entschlossenen Sache, und es scheint so, dass
Stu ihm nicht entgehen kann.

Der dramaturgische Kniff, einen Film mit Telefon und Handy abzuliefern,
das ist die eigentliche Überraschung in Zeiten von „Matrix Reloaded“
und „Terminator 3“.
Das Leben wird zur persönlichen Katastrophe, so eindringlich gefilmt,
dass man sich von den Schauwerten des Spektakels kaum abwenden
kann.
Überhaupt ist die Dramaturgie das eigentliche Zentrum für weitere Konflikte,
die sich auf Menschen in der unmittelbaren Nähe verlagern, auf die Polizei
und ein Antiterror-Kommando, und natürlich auf uns, die Zuschauer.
Was die Kamera abliefert (Matthew LIBATIQUE), ist phänomenal.
Sie begleitet jeden Schritt mit gnadenloser Geduld, sanft,
mitleidig, todesstarr. Sie blickt in die Augen von Stu Shepard. Und
sie scheint zu flüstern: „Wie schrecklich ist es, in dieser Welt zu sein.“
Was passiert, das fängt sie ein: Ausbrüche von Wut, die Erinnerung,
das Publikum, die Erbarmungslosigkeit, Scham, Unbehagen, schlicht,
das Leben eines Menschen das im Alptraum endet.

Diese Metamorphosen sind zwar aus der Filmgeschichte bekannt, doch die
Unsichtbarkeit der Moralität, die sich über das Geschehen legt, und die sich
auf den eigentlichen zentralen Konflikt fokussiert und die Orte der
Geschehnisse auf ein Minimum reduziert, das ist die eigentliche Meisterleistung,
die Spannung und Interesse wach hält, die jedoch auch einmal mehr als
nachdenklich macht.
PLATO behauptete einst, „dass Moralität nicht in uns liege“, sondern sich
darüber definiert, „was andere über uns wissen und von uns erwarten“.
Unsichtbare Menschen würden „trunken werden von Macht und sie
missbrauchen, wenn sie könnten“.
Der Unsichtbare (endlich mal wieder Kiefer SUTHERLAND, wenn er auch
nur in der Schlusssequenz zu sehen, meistens aber zu hören ist) hält sie
vermeintlich in der Hand und verwandelt die Realität im Nu zu seinem
persönlichen Projekt.

Unwillkürlich wird man an die Schrecken des menschlichen Alltags
erinnert: Entführungen, Banküberfälle, Raub und Mord, Terror,
die Totalität der Ökonomie, politische Höllenfahrten.
Wenn sie nach dem gleichen Muster ablaufen wie in „Nicht auflegen“,
wo ein hilfloser Psychopath aus der Illegalität heraus Konflikte und
Scheinkonflikte provoziert, dann ist dieser Universalismus
(es gibt keinen sicheren Ort mehr auf dieser Welt) dem Wahnsinn
nahe.
In Zeiten florierender Gewalt kann selbst eine simple Telefonzelle
in New York, das Auftanken eines Autos, ein Urlaub in der
Südsee, oder der Besuch eines Musiktheaters in Moskau jederzeit
den Tod bringen.
Ob allerdings Joel SCHUMACHER in „Nicht auflegen“ soweit gehen
würde, dies zu problematisieren, ist indes eine andere Frage.

Die Erinnerungen an menschliche Urängste, die im Verborgenen
bleiben, wenn sie nicht aus dem seelischen Gefängnis befreit werden,
lüften dann den Schleier des tragikomischen Traumes, wenn der
nüchterne Blick allen Verlockungen und Zweifeln widerstehen
kann.
Ob Stu, der zwischen Wahrheit und Lüge hin- und hergerissen
scheint, das Schwanken seines eigenen Gemüts als
verschenkte Gelegenheit oder als Obsession betrachtet, bleibt im
Dunkeln.
Daran ändert auch der aufgesetzte Plot (er wird von dem Killer mit
einem Gummigeschoss angeschossen) nichts.
Seine Beichte, oder besser, die Läuterung, die er durchlebt,
funktioniert nur mit den Kinomechanismen.
Der Fluss der Zeit, hier fließt er vorbei.

Anmerkungen:

(1) Klaustrophobische Filme aus den letzten Jahren sind etwa:
„Sphere“, Regie: R. Barry Levinson (1998),
“Panic Room”, Regie: David Fincher (2002),
“Ghost Ship”, Regie: Steve Beck (2002),
“Below - Da unten hört Dich niemand”,
Regie: David T. Twohy (2002).
Zu den eindringlichsten schauspielerischen Leistungen über
Klaustrophobie gehören zweifelsohne die Szenen der Einzelhaft mit
Steve MCQUEEN in „Papillon“ (1973) und Jack NICHOLSON
als Hausmeister im „Overlook“ Hotel in „Shining“ (1979).

Dietmar Kesten 24.12.03 11:00