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Gothika

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Gothika Dietmar Kesten 21.3.04 16:45

GOTHIKA

DAVID LYNCH LÄSST GRÜSSEN

von DIETMAR KESTEN, GELSENKIRCHEN, 21. MÄRZ 2004.

Halle BERRY, die Oscarpreisträgerin („Monster’s Ball“, 2001)
ist Dr. Grey, eine Kriminalpsychologin in einem Frauengefängnis.
Sie ist bekannt dafür, Störungen ihrer Patienten aus einer
streng rationalen Perspektive zu analysieren, bis sie selbst
an den Rand des Wahnsinns gerät. Während einer nächtlichen
Autofahrt hat sie eine schockierende Begegnung, die sich
in einem anschließenden Blackout entlädt. Als sie in
Woodward aufwacht, ist sie Patientin geworden. Beweise
zeigen, dass sie ihren Mann Dr. Doug Grey (Charles S. DUTTON)
ermordet und offenbar ihren Verstand verloren hat.

Dem Wahnsinn im Film nahe waren viele, und hier ist nicht
der Ort, sie alles aufzuzählen.
Es macht wenig Sinn; denn jeder mag hier seine Lieblingsfilme
und Schauspieler haben.
Begeistern kann ich mich immer noch für „Shining“ (Regie:
Stanley KUBRICK, 1980), „Einer flog über das Kuckucksnest“
(Regie: Milos FORMAN, 1976), oder sogar für „One Hour Photo“
(Regie: Mark ROMANEK, 2003).

Unter Wahnsinn versteht die Psychologie in der Zwischenzeit
nun nicht mehr ein Synonym für Psychose, was direkt die
Schwierigkeiten mit dem Film ausmacht, sondern einen Zustand
für Geisteskrankheit, aufgrund derer der Patient für seine
Handlungen nicht mehr verantwortlich ist, oder ihm die
Konsequenzen seines Tuns begreiflich und/oder
bewusst sind.
Beunruhigend, ja düster sind Vorstellungen, die Wahnsinnige
entwickeln auf jedenfall.
Und „Gothika“, der neue Film von Mathieu KASSOVITZ
(„Hass“, 1995, „Die purpurnen Flüsse“, 2000) setzt hier auch
gnadenlos an.
Er spielt mit der Gänsehaut, die seit Beginn dieses Genres
für Stille im Kino, für Stecknadelatmosspähre und
gedämpftes Licht gesorgt hat.

„Ich glaube nicht an Geister, aber sie glauben an mich.“
Mit diesem geflügelten Wort beginnt die unheimliche Begegnung,
mit der sich Halle BERRY konfrontiert sieht: ein nacktes,
verängstigtes Mädchen, hält sich in einer verregneten Nacht auf
einer Fahrbahn auf- der Schnitt folgt. Was auf der Leinwand
erscheint, das vollzieht sich in Greys Kopf.
Kurze Zeit später erwacht sie im Hochsicherheitstrakt
ihres eigenen Gefängnisses auf.
Auf der anderen Seite der Zelle, vollgepumpt mit
Beruhigungsmitteln, muss sie nun erfahren, was es bedeutet,
für wahnsinnig gehalten zu werden.
Diese Perspektivwechsel, die erzwungen erscheinen und
wenig originell (sie beginnt nun, sich selbst zu analysieren!)
versprechen eine psychologische Tiefe, oder besser einen
Thriller mit Rückblenden, um das eigentliche Ereignis einzugrenzen.

Und nun kommt auf einmal der Geist in ein fortan undurchsichtiges
Spiel, welches ständig mit der fiktiven Realität spielt, die als
Erscheinung des jungen Mädchens von der Straße durchs Bild huscht.
Als Untonte, die gefangen in ihrem eigenen Mythos ist, im Fluch, im
sprachlosen Kopf, versucht sie, Grey dazu zu bringen, Verbrechen
der Vergangenheit neu aufzurollen.
Dazu muss Grey selbst aus dem Gefängnis fliehen, aus ihrem
eigenen, dem realen.

Dass der Filmtitel auf eine englische Literaturform des 18. und des
frühen 19. Jahrhunderts zurückgeht, sei nicht besonders erwähnt.
Auch nicht, dass man dort „Gothika“ als geheimnisvoll, gruselig,
trostlos und übersinnlich fasste, dass auf die Vernunft traf.
Die Entsprechungen des Films auf Geisterbeschwörungen,
Geisterglauben, Pendeln, Stühlerücken, Kontaktaufnahme
mit Verstorbenen usw. in der heutigen Moderne sind nur zu
deutlich, und das Spiel mit der Illusion von Schein und
Wirklichkeit ist nur eine Fortsetzung der Horrorszenen, die
in der Auflösung des Spuks mit Einfallslosigkeit in die
ernüchternde Lektion einmünden, dass der Spielraum unserer
Phantasie enge Grenzen erreicht hat, und dass im Kino und
im Alltag Seher, Paranoiker und Neurotiker ein ‚Weiterleben’
eigentlich für selbstverständlich halten.

Im Kino muss man sich bei diesem Film von seiner eigenen
Vernunft distanzieren, von der Logik, um sich in die Geschichte
hineinzufinden. Und sie ist es, die den Reiz des Films
ausmacht, der die Köpfe sprachlos macht, der aber die
Unheilsorte und die Fahrt in die Totenreiche nur mit einem
Mangel am Reichtum der Phantasie kaschiert.
Es war David LYNCH, der mit „Mulholland Drive“ (2002)
einen Maßstab für Augenblicke des Grauens, die schnell
vorbeigehen, weil er die Geschehnisse wie ein Tanzritual
hat aussehen lassen, bei dem die Nerven der Zuschauer
als Struktur und als Gewebe sich ausbreiten und wieder
zusammenziehen geschaffen hatte.
LYNCH atmete die Finsternis, die gleichsam überall war,
die in der vergehenden Zeit im Kino die Abgeschlossenheit
eines Alptraums manifestierte, um daraus die Botschaft
zu formen, dass das Entsetzliche etwas ist, was Menschen
nicht ertragen können, und dass sie sich mit Masken
kostümieren müssen, wenn sie die überfettete und kulturlose
Zeit in Rückblenden aufarbeiten wollen.

Das Kino eines LYNCH sind Denkanstösse: es beschränkt
sich auf das Wesentliche, es ist meisterhaft.
LYNCH zeigt, dass Bilder und Töne miteinander kämpfen
können, die der Story dienen, und dass seine Szenen aus
diesen Gegensätzen heraus komponiert ist, aber auch von
diesen zerrissen sein kann.
Also Ironie statt Zynismus.
„Gothika“ kleistert diesen Widerspruch, wenn er denn einer
ist, mit seiner Musik zu.
So wird man vor jedem Schockeffekt gewarnt, der wie
‚Tomb Raider’ die drohende Gefahr musikalisch untermalt.

Die Episoden in „Gothika“ bestehen nur aus wenigen
Einstellungen, bei LYNCH besteht das ganze Kino daraus,
seine Lügen und seine Realitäten.
Seine Obsessionen sind ein Gesamtkunstwerk, das auch
durch Hollywoods zweite Garnitur bestehen kann.
Sie schwimmen auf einer Blase des Glücks um gleichzeitig
die Hölle, „Mulholland Drive“, zu erleben.
Daraus werden auch Schicksale gelesen.
„Wild at Heart“ (1990) war auch der ‘verrückte Kopf’,
der durch den Nachtwind jagte, den die Kamera haarscharf
einfing und den Zuschauer überwältigte.
Bei „Gothika“, dem konventionellen Grusel, sind die Paläste
ein Traum ohne Erwachen, bei LYNCH wird die Realität
zwar immer um haaresbreite verschoben, aber seine Filme
benötigen nicht die Gesichter von Schauspielern, die sich
verbiegen müssen.

Halle BERRY ist ein netter Schatten. Ihre nachvollziehbare
Performance weist durch die ständige Sprünge Risse
auf, die die Frage nach den Urängsten des Menschen
nur unzulänglich beantworten.
Penelope CRUZ ist ein schöner Morgen, wenn die Sonne aufgeht.
In diesen Rhythmen bewegen sie sich.
Sie stecken in den Bildern, manchmal fade, der Verzweifelung
nahe, der edlen Melancholie, doch das Wiedererkennen der
Welt scheint für sie zur Qual zu werden.
Man bekommt den Eindruck, dass der Film mit
seiner Sprachlosigkeit sprachlos wirkt, und doch manifestieren
sich in seinen Nuancen der Versteinerungen die Probleme
von Wahnsinnigen: traurig, verbissen, undurchdringlich.

Wer nur, um auf die andere Straßenseite zu gelangen, aus
der Stadt flieht, der wird seinen Platz niemals in seinem
Haus haben. Wenn man diesen geringen Unterschied bemerken
will, sollte man sich alle Filme von David LYNCH ansehen,
der selbst aus dem kärgsten Angebot Hollywoods
klassische Kopfgeschichten machte, die die grausamen,
ungerechten und schmutzigen Probleme in der Moderne
auf seine Art ins Kino brachte.
Um den Preis, sich zu wiederholen, befährt „Gothika“ diese
Schiene, ich gebe es gerne zu, durchaus originell, doch
der Film bekommt nie seine Tiefenschärfe, die sich auch
in dem Track von ‚Limp Bizkit’, „Behind Blue Eyes“
niederschlägt. Man hätte sich das Original von den
„The Who“ gewünscht, ein Song, der wahnsinnig macht.
Und weil wir uns daran erinnern sollten, zu jeder Zeit mit
dem Leben davongekommen zu sein, sollten wir uns an das
Leben mit dem wahren Unglück und dem falschen Glück
erinnern.
Und an das, was wir verloren haben; denn wer alles gibt,
und nichts bekommt, wird die Erinnerung nicht mehr ertragen
können.

Fazit: Wenn alte Bilder auf neue Bilder treffen, dann ergibt
das einen Verzerrungseffekt, der monströs sein kann und
das Unheil wie ein Gespenst aussehen lässt.
Sie gehen einem nicht aus dem Kopf.
Die Filme von David LYNCH gehen nicht mehr aus dem Kopf,
weil wir auf der Erde besser sehen sollten.
„Gothika“ verschwimmt im Nebel der Undurchsichtigkeit,
in das Reich des Es, in dem es kein Ich mehr gibt, sondern
nur noch dessen Schatten.

Dietmar Kesten 21.3.04 16:45