filmz.de
Closed

Lost in Translation

[ Info ] [ Links ] [ Kommentare ]
Die Avantgarde auf dem Vormarsch Dietmar Kesten 19.6.04 11:35

LOST IN TRANSLATION

DIE AVANTGARDE AUF DEM VORMARSCH

von DIETMAR KESTEN, GELSENKIRCHEN, 19. JUNI 2004.

Es war das Cover mit der abziehbaren Bananenschale,
von Andy WARHOL entworfen, das der einstigen
Supergruppe „The Velvet Underground“ (Lou REED,
Jon CALE, Sterling MORRISON, Maureen TUCKER)
viel Kredit einbrachte.
1967 wurde mit der damaligen Frontsängerin Nico das
Album „The Velvet Underground and Nico“ produziert, und
es hat bis heute nichts von seiner avantgardistischen
Aussagekraft verloren.
Hier vereinigten sich Traditionalismus und Moderne
perfekt.
Und weil die dortige Verträumtheit als Meilenstein
in der Rockmusik gilt, der Drang danach, Emotionen
durch die Musik zu perfektionieren, in ein neues
Lebensgefühl einmünden zu lassen, konnte sich nicht
nur die bekannte Multimedia Show von WARHOL, sondern
auch seine nicht weniger bekannte Film-Factory schnell
etablieren.
In „Lost In Translation“ (Regie: Sofia COPPOLA, 2003)
erkennt man auf den ersten Blick jene unvergleichliche
Melancholie wieder, das irreal-verträumte, die diese
Zeit, die Musik („Waiting For The Man“, „Venus In Furs“,
„Femme Fatale“) und diesen avantgardistischen Stil
atmet.
Der Vergleich scheint deshalb statthaft und angebracht,
weil jene schillernde Lyrik (Gerard MALANGA) von
„The Velvet Underground“ und die frei assoziierten
Metaphern in einer Fülle von Stimmungseffekten aufgingen,
die schwermütig stimmten, schwärmerisch verklärt waren,
und ein Leben am flimmernden Rand hervorbrachte.
Die Entwicklung dieser Gruppe war nicht zwingend, auch
nicht notwendig. Und trotzdem wurde sie zu einem
Meilenstein. Musik und Film geben sich hier die Hand.
Ähnliches kann man in „Lost In Translation“ neu
entdecken.

In einer unscheinbaren Hotelbar in Tokio lernen sich der
amerikanische Schauspieler Bob Harris (Bill MURRAY) und
die von ihrer Ehe mit einem Fotografen frustrierte
Charlotte (Scarlett JOHANSSON) kennen.
Die Flüchtigkeit dieser Begegnung, die Gleichgültigkeit
im Leben dieser beiden Figuren, deren Gespräche mit
ihren Ehepartnern sich um die Inneneinrichtung der Wohnung,
um den Geburtstag des Sohnes und der ständigen
Abwesenheit des Mannes, der seine Fotografie mehr zu
lieben scheint, als seine Frau, drehen, lassen erahnen,
wie es um ihr Seelenleben bestellt ist.

Sofia COPPOLA („The Virgin Suicides“,1999) hat das Märchen
von dem alternden Star und der um Jahre jüngeren und schönen
Frau neu erzählt.
Dabei herausgekommen ist keine abgegriffene Geschichte,
sondern ein leises und einfühlsame Drama, eine Tragikomödie
über die Flüchtigkeit des menschlichen Lebens inmitten des
pulsierenden Tokios.
Als Bob und Charlotte eines abends zusammentreffen,
ändert sich ihr Leben.
Bob, der nach Tokio kam, um dort Reklame für eine
Whiskey-Werbung zu machen, trifft die sich langweilende
Charlotte in einem Zustand der Betrübtheit, Gleichgültigkeit
und spürbaren Sehnsucht nach Veränderung an.
Beide beschließen, sich in das Nachtleben zu stürzen.

Hier beginnt die eigentliche Geschichte, die von immer
neuen Facetten handelt, Zufälligkeiten, schrägen und schönen
Bildern, Vergänglichkeit des Erlebten, flüchtigen
Eindrücken und der tiefen Einsamkeit inmitten
authentischer Gefühl. Er handelt von Episoden, Isolation
und Schwermut. Er zeigt Menschen, die trotz ihrer Versuche,
das gegenwärtige Leben wenigstens für einen Augenblick zu
genießen, allein bleiben und in ihre Anonymität zurückkehren,
mit der sie sich an der Bar getroffen haben.

„Welcome to Tokyo International Airport”. Diese
Flughafenansage verbindet auf eigentümliche Weise
die Stimmung, mit den ausdruckslosen Gesichtern, die
durch Wartehallen und Abfertigung eilen, um den
Flieger nicht zu verpassen, den Rummel, mit dem man
sich alltäglich in Restaurants und Bars herumschlagen
muss, das hypnotisierte Trommeln und das Stakkato
der Werbebanner in den Straßen der Großstädte, die mittels
Lautsprecher den Konsum als wahre Hygiene der Welt
preisen.
Es geht also um die gesichtslose Fremde, den Blick
ins Leere, den hektischen Rhythmus, nostalgische
Schuldgefühle, um die Stimmungen, die man mit ihnen
verbindet, um das Private, das Intime, das, was niemand
aussprechen möchte, um seltsame Verhältnisse.

In den meisten Filmen, in denen sich Menschen unter
ähnlichen Voraussetzungen wie Bob und Charlotte
kennen lernen, geht es um Sex, um Affären.
In „Lost In Translation“ sind sich beide Protagonisten
zwar ziemlich nahe, doch ihre Beziehung, die rein
platonisch ist, spiegelt tiefe Berührtheit und
Sensibilität.
Die Charaktere, die sich hier selbst entdecken, der
großen Versuchung wiederstehen, bleiben nach gebührender
Abwägung aller Leidenschaften nicht mit Wildheit
gesättigt, sondern im Schmerz besänftigt.
Bob und Charlotte bilden die Mitte, in der alles möglich ist,
alles passieren kann, aber auch alles offen bleibt.
Das gibt dem Film viel Spannung, weil der Zuschauer
bis zur letzten Einstellung die Verträumtheit der beiden,
die hier nicht in einer blinden Liebe gipfelt, real
nachvollziehen kann.

Die flüchtigen Begegnungen im Leben, diejenigen, die
nur von kurzer Dauer sind, sind oftmals das Salz in der
Suppe.
Erkennt man doch, dass hier die Authentizität und die
Unverbrauchtheit menschlichen Daseins, das also, was
vielen abhanden gekommen ist, auffindbar wird. Und dass
die sich hier herauskristallisierende Atmosphäre ein Aufhänger
für die Reflektionen über das Machbare und der Möglichkeit,
sein eigenes Leben kritisch zu hinterfragen ist. Der Triumph
über das eingefahrene Leben, in dem sich alle Abläufe
stereotyp wiederholen, kann beginnen.

„Lost In Translation“ ist keine Abrechnung mit dem
Modernismus, mit der Verschwommenheit und der Vagheit
des Lebens inmitten von Globalisierung und kapitalistischer
Raffgier, sondern eine unvergleichliche Sammlung über die
Entwicklung von Gefühlen (wenn sie uns ereilen) und wie wir
mit ihnen umgehen.
Eigentlich ist der Film ein Kammerspiel. Es fehlt ihm nicht
an warnenden Hinweisen, die in der Zwischenzeit mehr Einfluss
auf uns gewinnen, als tiefe Zuneigung zu einem Menschen.
Etwa dort, wo Bob seine Erfahrungen mit dem mondänen Stil
Japans macht (Fernsehshows, Reklame, ständig wechselnde
Gesichter, Gesten, Mimik, Ereignisse, Klamauk, Business).

Beeindruckend ist die Individualität von Bob, der sein eigenes
Ich vor sich herträgt.
Er ist sich selber fremd, nahezu gleichgültig, von fabelhafter
Ironie (Bob, so übersetzt die Dolmetscherin, soll mehr
„Intensität“ bei den Werbeaufnahmen zeigen- man sieht ihn
als Dean MARTIN, Frank SINATRA, Roger MOORE)
durchzogen.
Das Absurde beherrscht er ebenso wie die Gleichgültigkeit.
Spürbare Veränderungen durchlebt er nur in der Gegenwart
von Charlotte.
Der Ausflug mit ihr ins Nachtleben hat viel von der
Unbekümmertheit, mit der einst „The Velvet Underground“ die
Bühne betraten. Hier ist Bill MURRAY ungemein beeindrucken.
Bob reflektiert seine eigenen Verhältnisse, den Ausbruch zu
wagen und bleibt dabei doch ein Gefangener seiner Selbst.

Wie ein „federloses zweifüßiges Tier“ (PLATON) läuft
Bob durch die Geschichte seiner verlorenen Jahre.
Es sind die schmerzhaften Prozesse, die aus dem blutigen
Mutterkuchen herausgeschält werden.
Es ist die Bereitschaft, die Netze des Vergessens zu
zerschlagen, die eigenen Signale zu empfangen, sie
weiterzugeben ohne die kostbarsten Steine fallen zu lassen.
Denn nichts in der Welt ist schwieriger als die eigene
Demontage.
Wenn er in Karaoke Bars singt, dann sind das die Geschichten,
die dem Film die Idee vom Glück und Unglück der
Menschen geben.
Es sind Glücksaugenblicke, von denen es zu wenige gibt;
denn die Gegenwart zu genießen, fällt uns am schwersten.
Wir laufen von ihr fort, rennen ihr nach, träumen uns in
rosige Fernen, müssen das Alte bereinigen, das Vergangene
waschen, erwischen sie nie beim Schopfe.

Etwas über sich selbst lernen, das ist der Lohn.
Bob und Charlotte- das ist der Maßstab für alles Lebendige.
Und insofern avantgardistisch.
Der Film teilt die Sorge: kein Wille, keine Vorstellung, keine Welt,
keine Ideale. Nur die Sorge um das Vergessen ist geblieben.
Wer vom Mitleid erfüllt ist, ist wirklichkeitsnaher, macht sich bereit
für den Schwermut.
Und ein Lächeln, das von Charlotte, erzeugt hier mehr Trost
als die Synthese vom Ewigen und Zeitlichen, von Freiheit
oder Notwendigkeit.
Die Sekunden des Augenblicks zählen, und es gilt, sie zu
genießen.
Der desillusionierte Star und der traurige Clown, die
flüchtige Charlotte- hier verbrüdern sich die modernen
Schlafwandler, für die Tokio der perfekte Ausbruch ist.

Überhaupt scheint es diese Stadt zu sein, die das
hypermoderne Lebensgefühl der beiden Looser
in ihren Bann zieht.
Das avantgardistische dieses Films ist dann auch
sein Bilderrausch, an dem man sich nicht satt genug
sehen kann: immer neue wechselnde Perspektiven,
grelle Bilder, helle Bilder, pastellfarben, verträumt,
direkt, jedes heimliche Grundempfinden ausgeleuchtet,
geißelnde Neoreklame, dunkle, emotionalisierte und
irreale Aufnahmen, bei denen man wie in Trance
eintaucht, um zu vergessen, zart, versponnen, nicht
aufgetragen. Die Kamera rast durch die Nacht,
heftet sich an die Fersen der beiden, steigt die Hochhäuser
hinauf, in die Spielhöllen hinab
Der Film ist Tragödie und Komödie zugleich.
Und inmitten dieser radikal modernen Stadt erleben
wir einen Bill MURRAY, der eine Oscarverdächtige
Rolle abliefert.

Fazit: Was man sieht, muss man bewahren, man muss
es weitergeben, sonst geht es gleich wieder verloren.
Das mag der Ursprung des Kults sein.
“Welcome to Tokyo International Airport”- im Kreislauf
der Menschenmassen schlägt man sich gerne auf die
Seite von Bob und Charlotte.
Manchmal ist es trostlos, manchmal auch betörend.
Der Film entlässt uns nicht geläutert und befriedet.
Er bringt Fragen hervor, die dazu geeignet sind, dem
Erprobten und Gewohnten den Rücken zu kehren, den
neuen Blick zu wagen, auch dann, wenn man zum
Flughafen zurückkehren muss.
„Lost In Translation“ ist ein Film, dem die Zukunft gehört.
In seiner Eigendynamik zeigt er absolut das Beste, was
das Kino zur Zeit zu bieten hat.
Auch aus diesem Grund ist der Film avantgardistisch, ein
Vorreiter für ungewohnte Entdeckungsreisen.

Dietmar Kesten 19.6.04 11:35