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Nathalie - Wen liebst du heute Nacht?

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ADERLASS Dietmar Kesten 14.8.04 13:20

NATHALIE

ADERLASS

von DIETMAR KESTEN, GELSENKIRCHEN, 14. AUGUST 2004.

Der Franzose Gilbert BECAUD (verstorben im Dezember
2001 in Paris) sang 1964 das Lied von „Nathalie“,
die in den Straßen von Moskau auf der Suche nach der
Liebe war. Nathalie, das Geschöpf seiner Phantasie, gehörte
zu jenen verruchten Frauen, die im Schlager dieser Zeit
nur in Andeutungen besungen werden durften.
Und so pries er mehr ihre Schüchternheit und Unnahbarkeit,
obwohl sie ja vermutlich auch nur ein Straßenmädchen war.
In den späteren französischen Chansons etwa von
BRASSENS, GRECO, PIAF, BIRKIN, MONTAND oder
TRENET war man deutlicher. Irgendwo kam Nathalie, die
Schöne, immer vor.
In den Filmen „Das Leben ist ein Chanson“ (Regie:
Alain RESNAIS, 1997) und „Nathalie“ (Regie:
Diana KNEZEVIC, 2002) wird dem französischen Künstler
gedacht.
Ob Anne FONTAINE („Augustin“, 1995, „Eine Saubere
Affäre“, 1997, „Augustin - Kung-Fu-König“, 1997) sich in
ihrem Film „Nathalie“ davon inspirieren ließ?

Gerard DEPARDIEU („Die letzte Metro“, Regie:
Francois TRUFFAUT, 1980, „Die Frau von nebenan“,
Regie: Francois TRUFFAUT, 1981, „Danton“,
Regie : Andrzej WAJDA, 1982, „Cyrano de Bergerac,
Regie: Jean-Paul RAPPENEAU, 1990,
„1492 - Conquest of Paradise“, Regie: Ridley SCOTT, 1992,
“Hamlet”, Regie: Kenneth BRANAGH, 1996,
„Asterix und Obelix gegen Cäsar“, Regie: Claude ZIDI, 1998,
„Der Graf von Monte Christi“, Regie: Josee DAYAN, 1998,
„Balsac“, Regie: Josee DAYAN, 1999) spielt an der Seite
von Fanny ARDANT („Die Frau von nebenan“, Regie:
Francois TRUFFAUT, 1981, „Auf Liebe und Tod“,
Regie: Francois TRUFFAUT, 1982, „Das Leben ist ein
Roman“, Regie: Alain RESNAIS, 1983, „Eine Liebe von
Swann“, Regie: Volker SCHLÖNDORFF, 1983,
„Die Familie“, Regie: Ettore SCOLA, 1987,
„Hundert und eine Nacht“, Regie: Agnes VARDA, 1994,
„Ridicule“, Regie: Patrice LECONTE, 1996,
„Elizabeth“, Regie: Shekhar KAPUR, 1998,
„8 Frauen“, Regie: Francois OZON, 2002)
ein entfremdetes Ehepaar, das die Lust aufeinander verloren
hat. Um die Ehe zu retten, engagiert Catherine
(gespielt von ARDANT) die Prostituierte
Beart/Nathalie (gespielt von Emanuelle BEART), die mit
Bertrand (gespielt von DEPARDIEU) anbändelt.
Von dieser Frau lässt sie sich fortan jedes pornografische
Detail der erotischen Begegnung erzählen.
Der Film, eine Mischung aus Entsagung und Kontrolle will in die
geheime Sphären der Lust vordringen. Dabei wird
Catherine von der eigenen Perversion getrieben.
Von der Lust, den Sex ihres Mannes, bis in die Details
der Erektion erzählt zu bekommen.
Es ist der Erzählstil von FONTAINES, der die Last mit
der Lust beschreibt und in geheime Sphären vorzudringen
gedenkt, zu denen man sonst nur ungenauen Zugang
hat.

Es mag sein, dass die Story wenig Sinn ergibt. Aber das
ist es nicht, was sich hier in dieser dialogreichen Begegnung,
elegant und diskret der Alltäglichkeit widersetzt. Es ist
die Melancholie und ein Gespür für die Situation, der man
unterliegen kann, und die manchmal wie aus dem Nichts
auf einen zukommt.
Catherine stürzt sich in eine perverse Phantasie und dieser
Kick bringt sie zurück ins Leben.
Zu Beginn von „Nathalie“ sieht man sie in einem Nachtclub,
wo sie die Prostituierte für ihren Mann aussucht.
Sie betrachtet sie mit dem Blick ihres Mannes und sucht
Beart aus, der sie den Namen „Nathalie“ gibt, die jünger, blonder,
vielleicht sogar sanfter als sie selbst ist.
Beute- und Jagdverhalten, Kühnheit, ein
Selbstrettungswerk, ein zweiter Körper, sich die Möglichkeit
geben, selbst zu überleben, später frei von
Schulddebatten über Beziehungen, Familie, Werte und
Kinder zu sein, der Zerstörung der Seele zu trotzen?
Man sieht einen Film, wo diese Fragen vakant werden, der
die Rolle einer Frau hinterfragt, die mit merkwürdigen Mitteln
versucht, die Untreue ihres Ehemannes in den Griff zu
bekommen.

Eine Dreiecksgeschichte, bei der es um Sex geht, um Manipulation,
denn Bertrand ahnt nichts von den Machenschaften seiner
Frau, um Erotik gegen Geld, Danke, auf Wiedersehen: man erspart
sich das Gerede, die Rituale, die Erpressung, oder wie es der
Autor John IRVING einmal ausdrückte:
„Für Sex bezahlt man immer - bei einer Hure mit Dollar, und
auch eine Affäre sei nicht kostenlos zu haben. Die Entscheidung,
mit wem wir ins Bett gehen, ziehe immer eine Konsequenz nach
sich.“ (zitiert nach Wolfgang SCHMIDBAUER:
„Die heimliche Liebe. Ausrutscher, Seitensprung, Doppelleben“,
Hamburg 2001).
Der Film atmet den Zeitgeist und schaut der bürgerlichen
Gesellschaft mitten ins Gesicht.
Feministinnen könnten hier vermutlich nur die Verhältnisse
wiederfinden, die sich in den Rollenklischees
widerspiegeln; denn hier betrügen alle: Catherine betrügt
Betrand mit einem jüngeren Mann, Bertrand betrügt sowieso
und Nathalie ist als Prostituierte immer die Betrogene.
In der Emanzipationsbewegung der 60er Jahre wäre nicht nur
deswegen ein solcher Film zerrissen worden, sondern auch
sein raffiniertes Arrangement wäre auf Kritik gestoßen, die man
als bourgeoise Sicht des Patriarchats hätte interpretieren können.
Er zeigt nämlich prekäre Gefühlslagen, wenn man sie
überhaupt filmisch zeigen kann. Er zeigt die Protagonisten, die auf
unsicherem Grund agieren, die Ausreißer sind, Möchtegern-Ehepartner,
für die das Eheleben schwer beschädigt ist, die ihre Sehnsüchte zerschellt
sehen und in ihrem Drang, die Liebe zurückzugewinnen, wie
Süchtige wirken.

Es gab nur wenige Filme, die das noch klarer zeigten, die
zeigten wie besessen man vom liebenden Sex oder nur vom
Sex sein kann, vom Narzissmus, der jede einzelne Faser des
Körpers durchzieht. In eine „Verhängnisvolle Affäre“ (Regie:
Adrian LYNE, 1987) war es Glenn CLOSE, die ihre eigene
Aufwertung durch Destruktion und Entwertung des Geliebten und
dessen Partner bis ins selbstschädigende praktizierte.
Bis in alle Details zeigte der Film die Rache als eine ernsthaft
zu erwägende Option. Die Idealisierung von Offenheit alles
zu gestehen, war aber hochgradig naiv, da Geständnisse
bekanntermaßen verletzen.
Vielleicht ist es immer noch so?
Man fürchtet um sein bürgerliches oder kleinbürgerliches
Nest. Statistische Werte wären hier angebracht; denn sie
könnten erklären, warum jede zweite Ehe wieder
geschieden wir, und warum jede andere Beziehung in den
ersten zwei Jahren auseinandergeht.
Sie könnten auch erklären helfen, warum verheirate und
unverheiratete Männer zu Prostituierten gehen, warum sie
Geliebte haben, oder sich in Seitensprüngen hervortun.
Anders herum wäre es nicht falsch, anzumerken, dass
Frauen immer noch den Konventionen und der Kultur
entsprechen, unter gesellschaftlichen Unterdrückung leiden.
Die Familie, obwohl sie sich schon längst überlebt hat,
erscheint immer noch als alleinige Matrix des sozialen
Lebens, obwohl sich heute jeder auf seine Art vergnügen
kann. Und die gesellschaftlichen Verhältnisse lassen
genügend Spielraum für die Individuen, ihre Triebe,
Instinkte und Liebesbedürfnisse auszuleben.

Der Mehrheit fällt es immer noch schwer, zu akzeptieren,
dass es Menschen gibt, die sich nicht in die gängigen
Formeln hineinpressen lassen.
Ob man deshalb für die Anarchie, die freie Liebe
ohne Bindung plädieren sollte? Das wäre zumindest
nach dem Kinogang überlegenswert. Oder doch nicht;
denn am Ende weiß niemand was Verstrickung, was
nur Wahrheit und was Lüge ist.
Jene 68er, die mit der „Kommune I“ (von Fritz TEUFEL
und anderen am 1. Januar 1967 in (West-)Berlin
gegründet) diese Ideologie propagierten, waren zumindest
theoretisch der heutigen Zeit weit voraus, wenn sie auch,
wie nachzulesen ist, sich dieser Praxis entsagten, an ihrem
eigenen Mythos strickten und sich auch nicht dem
familienbezogenen Blick der Warenproduktion entziehen
konnten.

Was wäre nun „Nathalie“?
Eine Ode auf die individuelle Freiheit, die TRUFFAUT
mit seinem Film „Die Frau nebenan“ vertat?
Nur ein Film über die Liebe, wie zig andere Filme auch, die
über die Liebe sinnierten, die im Kino von RESNAIS,
Malle, TECHINE u. a. ihre Kreise zogen?
Vielleicht ein Versuch, der französischen (Liebes-)Literatur
von MAUPASSANT, BALSAC, STENDHAL, FLAUBERT
oder PROUST einen neuen Schub zu geben, oder die
Individuen zu zeigen, die der Verkörperung der
tragischen und destruktiven Liebe unterliegen?
In „Nathalie“ erscheint indes alles destruktiv zu sein.
Die Frauen, die auf ihren Gefühlen bestehen, die
zerstörerisch und rechthaberisch sind, die selbst
Kompromisse nicht für lebensfähig halten, die
im emphatischen Sinne abwesend sind.
Man fühlt sich an De SADES und sein Buch
„Justine“ (verfilmt 1969, Regie: Jesus Franco MANERA)
erinnert. Die Nichtexistenz der Liebe scheint
bei ihm so eklatant zu sein, so verwirrend und so
negierend, dass es schon wieder um tiefe Liebe geht
und nicht um die eigentliche Befriedigung der
sexuellen Gelüste.

„Nathalie“ ist keine große Liebesgeschichte.
dafür ist die Geschichte zu sehr aufgesetzt. Doch die
Hurenkostümierung ist das Unnahbare, es ist Teil
des Films und Teil der Schauspieler.
Wie in „Auf Liebe und Tod“ oder
„Eyes Wide Shut“ (Regie: Stanley KUBRICK, 1999)
macht es den Darstellern (überragend
Fanny ARDANT) und dem Film sichtbaren Spaß, sich in der
Verwandlung zu üben.
Es mag der einzige Weg sein, mit aggressiven
Zeichen das Kellerloch der Verführung zu zeigen, die
Liebe an die Oberfläche zu locken.
Womöglich ist es nicht das Gerede über Sex und
Praktiken, sondern der Blick in die tiefe Angst der
Gesellschaft vor unabhängigen Frauen, das hier
beeindruckt.
„Nathalie“ tritt die Flucht nach vorne an. Es ist
ein wenig ungewöhnlich, sich dabei zurechtzufinden,
weil es viel Überwindung kostet, über seinen eigenen
Schatten zu springen, sich einen Kuss von seiner
Geliebten abzuholen, um dann schnurstracks
ins nächste Bordell zu gehen.

Die Doppelmoral, stundenweise wegzutauchen,
um sich dann keineswegs geläutert dem Ehekonsum
hinzugeben, macht uns zu Outlaws und
Abgestempelte und umgekehrt zu Ausreißerinnen und
Schlafzimmerkonkubinen.
Ob Finsternis und Licht, Depression und Euphorie:
bei „Nathalie“ findet man alles.
Auch der kälteste und steifste Prüde entsteigt
hier einem warmen Quell und staunt über die
willkommene Abwechselung eines solchen Films,
den man nicht unbedingt vermisst, aber
doch herbeigesehnt hat. Nach dem schäbigen Film
„Das Mädchen Rosemarie“ (Regie: Bernd EICHINGER, 1996),
wo dauernd die Grenze zwischen Liebe, Erotik,
Sex und Gefühlen dermaßen verwischt wurde,
dass er schon wieder zu einer durchschaubaren
Lüge wurde, und der „Nathalie“-Babystrichserie
(1994-2002), die nur Effekthascherei, Softporno
und plumpe Dialoge bot, ist dies durchaus ein
bemerkenswerter Film.
Man staunt über die schöne Französin
Emanuelle BEART, die der Film bestens abbildet.
Wenn da nicht die eigene Unsicherheit wäre, mit der man
sich ein Leben lang herumplagt, so müsste man sie
jetzt zu einem Rendezvous bitten.
Die Angst vor der eigenen Courage, ihren Schnürleib zu
enthüllen, wird einen vermutlich daran hindern.

Fazit: Marx hatte schon Recht: „Der Mensch ist
Produkt seiner Umwelt und der Erziehung!“
Einmal mehr ist es die Erziehung im Kapitalismus,
die uns davon abhalten mag, zu Globetrottern unserer
Gefühle zu werden.
Es begegnen uns ein Ehemann auf Abwegen, der seine
getriebene erotische Lust wie Marcello MASTROIANNI
in „Stadt der Frauen“ (Regie:.Frederico FELLINI, 1980)
erlebt, eine Ehefrau, die bei der Erzählung von
sexuellen Erlebnissen zuhört, eine Prostituierte,
die an dieser Geschichte hängt.
Keine Bilde sind die falschen. Es sind Momente der
Wahrheit und der Entlarvung, die uns hier
gegenüber treten.
Jede Figur besitzt den Schlüssel zur
Lebenslüge. Und über den alten Wirrwarr der
Gefühle stülpt sich das Lallen der Betroffenheit.

„Wer liebt, muss lügen.“

(Wolfgang Schmidbauer)

Dietmar Kesten 14.8.04 13:20