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Oliver Twist

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OLIVER TWIST - IM 19. JAHRHUNDERT Dietmar Kesten 10.1.06 15:54

OLIVER TWIST

GEGEN DIE SCHREIENDE UNGERECHTIGKEIT DES 19. JAHRHUNDERTS

von DIETMAR KESTEN, GELSENKIRCHEN, 24. DEZEMBER 2005.

Der Sozialist Friedrich ENGELS schrieb in seiner bahnbrechenden Studie „Die Lage der arbeitenden Klasse in England“ (1844/45) über das viktorianische London: „Schon das Straßengefühl hat etwas Widerliches, etwas, wogegen sich die menschliche Natur empört. Diese Hunderttausende von allen Klassen und aus allen Städten, die sich da aneinander vorbeidrängen, sind sie nicht alle Menschen mit denselben Eigenschaften und Fähigkeiten und mit demselben Interesse, glücklich zu werden? ... Und doch rennen sie aneinander vorüber, als ob sie gar nichts gemein, gar nichts miteinander zu tun hätten, und doch ist die einzige Übereinkunft zwischen ihnen die stillschweigende, dass jeder sich auf der Seite des Trottoirs hält, die ihm rechts liegen, damit die beiden aneinander vorbeischießenden Strömungen des Gedränges sich nicht gegenseitig aufhalten; und doch fällt es keinem ein, die andern auch nur eines Blickes zu würdigen... Überall barbarische Gleichgültigkeit, egoistische Härte auf der einen und namenloses Elend auf der anderen Seite, überall gegenseitige Plünderung unter dem Schutz des Gesetzes, und das alles so unverschämt, so offenherzig, dass man vor den Konsequenzen unseres gesellschaftlichen Zustandes, wie sie hier unverhüllt auftreten, erschrickt und sich über nichts wundert als darüber, dass das ganze tolle Treiben überhaupt noch zusammenhält.“ (MEW Bd. 2, Berlin (Ost) 1969)

Roman POLANSIK („Tanz der Vampire“, 1967, „Rosemaries Baby“, 1967, „Chinatown,“, 1974, „Frantic“, 1987, „Bitter Moon“, 1991, „Neun Pforten“, 1999, „Der Pianist“, 2002) stellt seinen „Oliver Twist“ nach Charles DICKENS (1812 - 1870) in diese Elendsatmosphäre. Aus dieser akribisch gezeichneten ENGELS Atmosphäre, bezieht auch POLANSKIs Adaption den ungeheuren Reiz. DICKENS Geschichte über den Waisenjungen „Oliver Twist“, der vor seinen Unterdrücken und Peinigern flüchten muss, ist nun bei POLANSKI keine Weihnachtsgeschichte mehr. Denn im Laufe der Zeit hat sie sich gewandelt. Weil DICKENS Werk komplex, vielschichtig und nicht nur pubertäre Jugendliteratur ist, hat POLANSKI es bestens verstanden, ihr jene Kindlichkeit zu nehmen, mit der die Filmindustrie immer zu Werke ging, wenn DICKENS Romane verfilmt werden sollten.

POLANSKI lässt Oliver (Barney CLARK) mit der Diebesbande des greisen Fagin (Ben KINGSLEY) durch die engen Höfe und Gässchen ziehen, durch einen Haufen von Schmutz und Asche, Pfützen, bröckelnden Türrahmen, schmutzigen Häusern und baufälligen Kellern. Sein Spiel mit Licht und Schatten, das durch den wabernden Nebel London noch in eine düstere Fäulnis hüllt, sind jene naturalistischen Bilder, die Armut, Ausbeutung, Verkommenheit, Verbrechen und alltäglicher Gewalt bestens charakterisieren.
„Welche physische und moralische Atmosphäre in diesen Höhlen des Lasters herrscht, brauche ich wohl nicht zu sagen. Jedes dieser Häuser ist ein Fokus des Verbrechens und der Schauplatz von Handlungen, die die Menschlichkeit empören und vielleicht ohne diese gewaltsame Zentralisation der Unsittlichkeit nie zur Ausführung gekommen wären.“ (ENGELS, ebd.)

Schon nach wenigen Minuten ist klar, dass Oliver Objekt schamlosester Auspressung ist. Durch Dodger (Harry EDEN) gerät er in die Mühlen fanatischer Diebeskonkurrenz, die mit Bill (Jamie FOREMAN) einen gewalttätigen Mittäter hat.
Dieser duldet es nicht, dass Fagin Oliver unter seine Fittiche nimmt; denn er soll bei dem Buchhändler Mr. Brownlow (Edward HARDWICKE) einbrechen. Damit strebt die Geißelung von Oliver einem Höhepunkt entgegen; denn dieser Mr. Brownlow ist für POLANSKI die Charakterisierung des Guten, der Oliver ein Dach über dem Kopf anbietet und Essen gibt. Diese Darstellung der Londoner Verhältnisse zwischen Arm und Reich, Gut und Böse, satt und hungrig, ist bestens gelungen.
„Die gewöhnliche Nahrung... sind Kartoffelschalen und Gemüseabfall, faulende Vegetabilien aus Mangel an anderer Nahrung gegessen und alles begierig herbeigeholt, was vielleicht noch ein Atom Nahrungsstoff enthalten könnte.“ (ENGELS, ebd.)

Dass POLANSKI DICKENS in seinem Sinne interpretiert, kann nicht verwundern; denn POLANSKI, dem es schon mit dem Film „Der Pianist“ gelang, die Bewältigung seiner eigenen Vergangenheit authentisch umzusetzen, tut es auch hier: in Waisenhäusern herumgereicht, geflohen, der gewaltsamen Trennung der Eltern ausgesetzt, Flucht während des Zweiten Weltkriegs aus dem Warschauer Ghetto, musste er sich wie Twist durchkämpfen und beherzt die Flucht nach vorne wagen. So verwundert es nicht, dass dieser auch irgendwo einen Hauch des realen POLANSKI atmet.

Oliver hatte vermutlich nur etwas mehr Glück als anderer seiner Zeitgenossen. Selbst DICKENS blieb ja nicht davon verschont, den Gang durch die Waisenhäuser zu gehen. In „Oliver Twist“ beklagte er auch sein eigenes Leben. Sein Vater wurde 1823 in London in ein Gefängnis gesteckt. Charles selbst durchlitt Höllenqualen und verdingte sich als Hilfs- und Lagerarbeiter, wo er die Brutalität des aufstrebenden Kapitalismus hart erfuhr.
„Und ist die Not erst groß, so tritt die Brutalität, mit der die Gesellschaft ihre Mitglieder gerade dann verlässt, wenn sie ihrer Unterstützung am meisten bedürfen, erst recht grell hervor.“ (ENGELS, ebd.)

Man kann „Oliver Twist“ als politische Botschaft interpretieren: sich nicht aufgeben, kämpfen ums Überleben, das Glück beim Schopfe packen, wenn es einen ereilt, den Kampf zu führen gegen die realen Schrecken der Moderne, sich zu finden, ein Ziel zu haben, wofür es sich lohnt, einzutreten, etwas sinnvolles zu gestalten, machbar und nicht weltfremd. Alle POLANSKI - Filme sind irgendwo mit dieser Lebensphilosophie durchzogen, mit diesen Momenten des befreienden Lebens, wenigstens für einige Sekunden auf der Stufenleiter zwischen verhältnismäßigem (gutem) Komfort und dem äußersten Mangel den bescheidenen Mittelweg zu erklimmen. POLANSKI Filme sind jedoch auch sehr brutal. Sie stoßen ins Herz der sozialen Verhältnisse. Und nicht immer gelingt es irgendeinem Oliver diesen mit einer Kutsche zu entfliehen.

„Kinder, die gerade zu der Zeit, wo sie Nahrung am nötigsten hätten, nur halbsatt zu essen bekommen... solche Kinder müssen notwendig schwach, skrofulös und rachitisch im hohen Grade werden... Die Vernachlässigung dieser, hinterlässt unvertilgbare Spuren und hat die Schwächung der ganzen arbeitenden Generation zur Folge. Dazu noch die ungeeignete Kleidung und die hier gesteigerte Unmöglichkeit, sich vor Erkältungen zu schützen...“ (ENGELS, ebd.)

Dietmar Kesten 10.1.06 15:54