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Thomas Harlan - Wandersplitter

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De Facto Bandenmitglied Franz Witsch 10.7.07 14:35

nachzulesen in www.film-und-politik.de

Die Kamera fixiert fast ausschließlich Thomas Harlan, meist sein Gesicht in Großaufnahme, seinen Mund, der nicht aufhört zu sprechen, es sei denn, um vernehmbar zu atmen. Röcheln ist wohl eher das angemessene Wort. Seit dem Jahre 2001 bewohnt er, Jahrgang 1929, ein kleines Zimmer in einem Lungensanatorium, in Sichtweite vom Obersalzberg, wo Hitler regelmäßig ausspannte. Wenn er noch lebte, könnte er mich jetzt sehen, sagt er zwischendurch, als müsste er sich erholen vom Erzählen. Er weiß, wovon er spricht: als Kind saß er zu Tisch bei Hitler, zusammen mit Veit Harlan, seinem Vater, der einen der übelsten Hetzfilme der Filmgeschichte zu verantworten hatte: “Jud Süß”; zusammen mit Porsche, dem Erfinder des Volkswagens. Wer sonst noch am Tisch saß, kann Thomas Harlan mit Sicherheit nicht mehr sagen. Vielleicht noch der oder der. Lassen wir’s, spielt keine Rolle. Es wurde nicht über Politik gesprochen. Man träumte, vor allem der Führer sprach. Seine Präsenz füllte den Raum aus bis in den letzten Winkel hinein, alle anderen zur Bewegungsunfähigkeit verurteilend. Er hatte etwas übrig für sein Volk. Jeder Deutsche sollte einmal einen Volkswagen sein Eigen nennen dürfen. Ein Wunder. Seine Versprechungen traten bisher stets ein. Er ließ Autobahnen bauen, schuf Arbeit für alle, dazu eine stabile Währung. Er war ein Menschenfreund. Er war es, der den 1.Mai zu einem Feiertag machte, an dem Arbeitnehmer ihre Arbeit bis heute ruhen lassen.

Penetrant, ja schamlos betrachtet die Kamera ihr Objekt. Am Ende ist der Zuschauer mit jeder Pore, jeder Falte, jeder noch so kleinen Verunreinigung der Gesichtshaut vertraut. Eine Intimität, die kein Mensch so ohne weiteres gutheißen würde. Geht das jetzt immer so weiter? Nur die eine Kameraeinstellung? Diese eine Nahaufnahme? Bisweilen dreht sich Harlans Kopf ein wenig zur Tür, nur kurz, um Menschen mit einer unmerklichen Bemerkung und Geste zu grüßen, die - aus Gründen, die nichts zur Sache tun - das Zimmer betreten. Nur selten fährt die Kamera nach draußen in den Flur, um vielleicht andre Bewohner des Sanatoriums einzufangen, oder durchs offene Fenster, den Obersalzberg im Blick, wo dereinst das Böse zu Hause war. Die Berge draußen machen den Eindruck, als könnten sie kein Wässerchen trüben.

Medienprofi Harlan tut, als gäbe es keine schützenswerte Intimität, als sei er mit sich allein. Und immer wieder dieses Röcheln, als wolle man den Zuhörer für wenige Sekunden immer mal wieder zum Atmen kommen lassen. Ein erholsamer Perspektivwechsel ist das nicht. Auch nicht, wenn kleine Schriftzüge den Film in unterschiedliche Lebensabschnitte zerlegen, ein Leben, das planlos vor sich hinstolperte, Dinge, die ihm zugestoßen seien, ohne je etwas in eine bestimmte Richtung gelenkt zu haben, mit einem vorher definiertem Ziel. Nur selten wird die Erzählung durch Fragen abgelenkt, als wolle man den Redefluss nur sich selbst überlassen. Ein Leben, durch Nebenwirkungen am Leben gehalten, Wandersplitter, die zu schaffen machen, die heute noch schmerzen.

Sich immerzu dem Reden ausliefern? Einfach immer nur sehn, was als nächstes kommt? Das dann ewig auf sich warten lässt, bis es sich dann endlich zu erkennen gibt. Uff. Die ersten zehn Minuten waren schon ganz schön anstrengend. Vor allem die Geschichte aus dem Jahre 1953 in Moskau, wo der Erzähler sich von einem wildfremden Mann in eine wildfremde Wohnung entführen ließ. Mach hin. Komm auf den Punkt, denke ich. Und dann ist’s nur eine Erzählung ohne “Ich”. Die Geschichte und ihre Geschichten mögen die einzelne Existenz im Auge haben: das Subjekt, und wissen dennoch nicht, was das ist: Ich.

Nicht doch, da muss noch jemand im Zimmer sein. Einmal oder vielleicht sogar zwei oder dreimal wird nachgefragt, insistiert: wie war das genau, wie ist das genau zu verstehen?, oder so. Der Zuschauer vergisst immer wieder, dass außer der Kamera noch eine weitere Person im Raum anwesend ist, eine, die fragt, sich interessiert, aber nur um Thomas Harlan umso nachdrücklicher zum Zentrum der Welt zu machen, als wollten die Filmemacher ihn zur weltumspannenden, alles erklärenden Singularität stilisieren. Hierbei wirkt die extreme Zurücknahme filmischer Mittel wie eine Drohung. Und der Film macht die Drohung wahr und zieht dann wie durch ein Wunder den Zuschauer neunzig Minuten lang in den Bann, bisweilen stark anrührend. Vorausgesetzt, man lässt sich auf den Erzähler ein, auf einen, der die Gesellschaft hasst, persönlich, körperlich, als sei das Böse im Zimmer präsent und nicht da draußen im Obersalzberg vergraben. Ein Hass im Gestus des Zwanglosen, der sich wie die Kamera zurücknimmt, als verstünde er sich zu benehmen, als gehöre er - ganz normal - zu den menschlichen Umgangsformen.

Ja, es ist seine Gesellschaft, wie damals der Führer sein Führer war, groß und mächtig. Subjekt und Gesellschaft gehen heute wie damals distanzlos zusammen. Daneben wird alles andere unwichtig, winzig klein, zu vernachlässigen. Eine mentale Kontinuität, zu der Thomas Harlan steht und die er, so nehme ich an, ausdrücklich will. Ich weiß nicht, ob er sich so versteht, und wenn, ob er versteht, was das bedeuten würde? Er will sich nicht verbiegen, wird er sich vielleicht sagen, um dafür einen hohen Preis zu zahlen. Wie im Film “Yella”: Auch Yella zahlt in unserer heutigen Welt einen hohen Preis für ihre Leidenschaft. Wie in der Filmbesprechung “Hostel 2” (www.film-und-politik.de) angemerkt, so gilt auch heute nach wie vor: “Zwischen dem, was es gibt: die (...) soziale Realität, und der Fähigkeit zu lieben, passt buchstäblich kein Haar.” Das hält kein Mensch auf Dauer aus - mit Haut und Haaren sich einer Sache hingeben. Diese Zeiten sind vorbei: Yella fühlt sich anderen Anforderungen ausgesetzt: sie kann sich ihrer Liebe nicht einfach nur ausliefern, sich der Geschichte ausliefern, um dann eines ganz und gar zu müssen: gehorchen oder durchdrehen, wenn da mal was aus dem Ruder läuft: Gehorsam, aus Versehen, nicht gelingt oder, was auf das selbe hinausläuft, nicht belohnt wird. Am besten, sie bewahrt, als Voraussetzung ihrer Liebesfähigkeit, die Ruhe, um nicht alles kaputt zu machen wie sie es bei ihrem einfältigen Ex-Lover verabscheut, der ihr wie ein Hündchen folgt, zu dumm, um nicht unterzugehen, zu dumm, um mitzugestalten, um das Objekt seiner Begierde auch mal zu überraschen: im Sinne der Liebe - der Struktur, in die sie eingebunden - auch mal eigensinnig eingreifen. Dabei verantwortungsvoll erscheinen, so, als würde man nur die Struktur im Sinn haben, nichts anderes darum herum. Und dann, oh weh, geht doch alles kaputt. Und keiner will’s gewesen sein.

Bei aller Untergrundarbeit gilt es dennoch immerzu den Anschein von Verantwortlichkeit zu erwecken, als lebe man für und nicht gegen die Struktur, nicht zuletzt dadurch, dass man sich in ihr schlafwandlerisch zu bewegen versteht, Experte ist in seinem Job, und das alles, um das immer nur fragile Gleichgewicht der Liebe zu wahren, die sich nicht mehr - Yella weiß davon ein Lied zu singen - in ein Korsett zwingen lässt durch eine Geste, zu der man aufschaut. Wie ekelhaft: aufschauen müssen zu Bundesfinanzminister Peer Steinbrück und Ministerpräsident Koch. Peers Reden über die Unternehmenssteuerreform weisen ihn als Experten aus, dem man nicht vertrauen kann, vielmehr vertrauen muss, als gäbe es sonst nichts auf der Welt: keine Alternative zu dem, was kommen muss, wenn nicht alles scheitern soll. Tatsächlich ist er nur einer, der seine Vokabeln vor der Kamera besser als andere beherrscht. Er beschreibt nicht Realität - er ist die Realität. Nur dass sich Strukturen und Verhältnisse einen Dreck darum scheren, wenn da einer seine Vokabeln beherrscht, um tatsächlich zu glauben, andere glauben zu machen, er habe etwas verstanden, er und die Struktur seien eins: Die Steuerreform sei kein Steuergeschenk an die Unternehmer, so versichern seine Reden gebetsmühlenhaft, sondern eine Investition in den Standort Deutschland. Punkt. So ist das also. Und was ist mit den anderen Standorten, die nichts zu verschenken haben oder schlicht zu blöd sind, um sich zu verschenken? Pech gehabt, wenn sie keine Tausendsassa aufzuweisen haben wie Steinbrück zweifellos einer ist. Der an die analytisch-theoretische Kraft einer Strategie glaubt, die auf “ökonomische Stärke” setzt - als zentrale Voraussetzung zur Entwicklung einer Ökonomie der sozialen Verträglichkeit. Was kümmert die Schwäche und wie sie zurecht kommt, die es zur höheren Ehre der Stärke geben muss. Es will sich bei unseren Superökonomen nicht herumsprechen, dass ökonomische Stärke keine Kategorie zur technisch-ökonomischen Funktionsanalyse sein kann, es sei denn, die Schwachen sind einem egal. Die müssen halt warten, bis es so weit ist: ausreichend ökonomische Kraft angesammelt ist, damit’s was zu verteilen gibt. So strohdoof darf man heute eigentlich nicht mehr sein. Groß, stark, mächtig sein, durch Wachstum, versteht sich. Dann wird alles gut. Gewiss doch, schließlich sind wir, die wir stark sind, die Guten, die ihre Stärke gegen andere nicht verwenden, sondern teilen, wenn Not herrscht in den Hungergebieten, während die anderen immer nur nicht kapieren, dass sie stark sein müssen - und gut. Wenn sie denn mal mit Reichtum gesegnet sind, durch Öl, wissen sie es nur fundamentalistisch gegen andere zu missbrauchen. Das alles und mehr versteckt einer wie Peer Steinbrück hinter öffentlichkeitswirksamer Präsenz: hinter dem, wie er etwas sagt. Die Form möchte sich, und sei es mit Gewalt, durch ihren Gegenstand nicht verunreinigen lassen, bis sie buchstäblich ihren Gegenstand verliert. Dieser existiert nur zur höheren Ehre öffentlichkeitswirksamer Präsenz, hinter der alles verschwimmt. Ekelhaft.

Wir wollen von einer Liebe sprechen, die durch Sprache allein, die verführerische Geste nicht mehr zu stemmen ist. Vielleicht etwas, was Thomas Harlan in dieser Dokumentation dennoch versucht, weil er gelernt hat, die sprachliche Form über alles zu lieben, ohne zu wissen, was das bedeutet: eine Sprache, die ihren Gegenstand verliert. So die Dokumentation über Thomas Harlan, die für meine Begriffe sehr sehenswert ist, weil sie den sozialen Sachverhalt gegenständlicher Ausdünnung durch Sprache beispielhaft zelebriert.

Einige Weisheiten aus dem Munde von Thomas Harlan, die man auf den ersten Blick einfach so hinnimmt, weil man sich von Sprache gern berauschen lässt, sprechen nur scheinbar für sich selbst und wirken auf den zweiten Blick befremdlich. So die folgende Weisheit: Müssen Menschen denn erst so grausam und extrem verlieren wie die Deutschen ihr Drittes Reich, um zu Verstand zu kommen, um überhaupt etwas zu begreifen? Das Böse existiert also letztlich, Gott sei Dank, auch zur höheren Ehre des Guten, auf dass dieses sich umso nachhaltiger durchsetze. Eine öde Dialektik, die weitere, noch dümmere Abgeschmacktheiten nach sich zieht, die Thomas Harlan gar nicht mehr aussprechen muss: in einem großen Genie steckt immer auch ein großer Teufel, will sagen: ein tiefer Abgrund von Schuldfähigkeit. Kunst oder Leben. Beides geht nicht. Wir kennen diesen Dreck von Nietzsche, Thomas Mann oder Heidegger. Oder: wo die Liebe am größten, ist noch größerer Hass nicht weit. Oder Heidegger, frei nach Hölderlin, kurz vor dem Zusammenbruch des Dritten Reiches: wo die Gefahr am größten, ist Rettung nicht fern.

Macht noch das Grausamste nicht irgendwie auch Sinn? Natürlich, es geht immer irgendwie weiter. Sprachmächtig sind große Genies in der Lage, noch das Abwegigste zum Gegenstand berauschender Reflexion zu machen. Kaum zu glauben, unsere Meisterdenker waren damals so gestrickt. Heute gibt es sie immer wieder, wenn auch im Westentaschenformat in Gestalt von Peer Steinbrück. Gar in Gestalt von Weltphilosoph Jürgen Habermas. Der hält Heidegger nicht für einen Rückschritt, eine unnötige Unterbrechung des philosophischen Diskurses, dazu angetan, zwei Generationen von Philosophen buchstäblich zu versauen, analog zu dem, was Keynes für die Ökonomie war und immer wieder ist: er baut nicht auf Marx auf, sondern fällt hinter ihm zurück. Schon weil Keynes einem ganz anderen Ansatz das Wort redet, einem, der systemaffirmativ auf Wachstum zielt, obwohl der sich mit ein wenig Prozentrechnung von selbst erledigen müsste. Wozu Wirtschaftspolitik im Sinne des Ganzen, wenn der Wurm steckt im Ganzen? Mit diesem Ganzen, dem Kapitalismus, hat Marx wenig bis gar nichts im Sinn, auch wenn er den Kapitalismus analysiert wie kein anderer vor und nach ihm es je wieder für nötig halten sollte. Alle gehen sie davon aus, dass der Kapitalismus sozialverträglich funktioniert. Wie auch anders. Schließlich gibt es immer mehr Menschen, die nicht hungern, denen es immer besser geht. Das muss doch einen Grund haben. Und es gibt Wachstum: hier und dort prosperierende Räume, reiche und starke Nationen, gut bezahlte Posten und anderes mehr. Ja, und so hält Habermas auch Heidegger für einen bedeutenden, wegweisenden Philosophen, wie sein Freund Ernst Tugendhat. Was für eine rührende Altherrenphantasie.

Vergeblich versucht Thomas Harlan die Gesellschaft nicht nur aus dem einen Grund zu hassen, weil er seinen Vater hasst. Der Vater (in mir) als alles erklärender Popanz. Seine Erzählung versucht auch jenseits von Ödipus präsent zu sein, wenn er von der heutigen - doch nicht etwa vaterlosen? - Generation spricht. Eine gute Generation, wie er sich ausdrückt, weil - an nichts gebunden als nur an sich selbst - sie nichts kapiert von dem, was mit ihr geschieht, z.B. wenn sie dem Peer zuhört mit offenem Mund, weil der keine Fragen mehr offen lässt. So bleibt buchstäblich nichts mehr übrig, was sich was kapieren oder schlimmer: was sich nicht kapieren ließe, weil da immer und überall schon wer da ist, der alles und nichts kapiert, noch bevor sich ein Mund öffnen könnte, um Stellung zu beziehen. Wenn, dann bleibt der buchstäblich offen, ohne den geringsten Ton abzusondern. Doof wie Stroh. Alles Scheiße - doch nicht etwa, weil Vati fehlt?

Und dann noch ein unwiderstehlicher Satz, ein Gedicht, der wieder mal alles auf Anhieb erklärt, der natürlich auch irgendwie stimmt: Was kümmert’s die Verhältnisse, wenn man sie versteht, wenn man überhaupt was versteht? Stimmt, alteingesessene Strukturen mit ihren Seilschaften lassen sich nicht so leicht ankränkeln. Also lieber nichts verstehen. Ist ja eh alles Scheiße, eh alles immer nur wie es ist. Unsere Jüngeren sind unschuldig nicht nur, weil sie sich unschuldig dünken. Sie kapieren ja tatsächlich nichts. Und das sei wunderbar, weil sie jungfräulich bei Null anfangen können, wenn sie nur endlich anfingen, sagt Thomas Harlan mit gerade noch wahrnehmbarer Ironie, an der alles teflonmäßig abgleitet, auf dass das Gesagte im Zuschauer dennoch irgendwie was bewirke. Und dennoch, so viel steht fest, es kommt da nix. Ist das etwa nicht zum Verzweifeln? An anderer Stelle spricht er dann doch wieder von Vernunft, so nach dem Motto, was kümmert mich mein Geschwätz von vor fünf Minuten: “Eigentlich könnte in Deutschland jeder vernünftig geworden sein. Wer hat denn in Guatemala die Gelegenheit, so viel zu kapieren wie dieses Scheißvolk?” Wie das?, so möchte man mal ganz doof fragen, wenn man bei Null anfangen muss? Wie gesagt, es hört sich alles nur irgendwie richtig an, wahrscheinlich weil Thomas Harlan den Ton trifft: Hör- und/oder Sehgewohnheiten gut zu bedienen versteht. Er ist eben ein Meister der Sprache.

Das Wort “Scheißvolk” wirkt, hingeworfen im Vorbeigehen, als sei es Thomas Harlan aus Versehen herausgerutscht. Denn eigentlich gibt er sich, als habe er gelernt, seinen Hass zu disziplinieren durch Sprache und sprechen, als wolle er ihn nicht als das erscheinen lassen, was er ist: besinnungslos, indem er Wortkathedralen baut, in denen die Statik stimmt, wo ein Wort das andere stützt, wo noch der kleinste Fehler in der Konstruktion, wie er so schön sagt, alles zum Einsturz bringen würde. Nur dass es zuweilen scheint, als kontrollierte die Form das Gesagte bis zur vollständigen Unkenntlichkeit, als verstecke sich Gesagtes verschämt hinter einer alles beherrschenden Form. Hin und wieder, ein Schönheitsfleck auf der opak-fahlweiß geschminkten Oberfläche, gerät der Redefluss doch einmal ins Stocken, als vom Vater die Rede ist, von seinem Sterben, ohne aber je ganz außer Rand und Band zu geraten, wobei der Blick nicht einmal um Ruhe bemüht ist, in der Gewissheit, der Schönheitsfleck mache Schönheit erst wahrhaftig.

Zuckende Unruhe kommt auf, als Thomas Harlan erzählt, wie der von ihm heiß geliebte Vater, dieser Verbrecher, in seinen Armen starb. Das war 1964. Da erlebte er ihn zum ersten und zum letzten mal als einen Menschen, der nicht zu ihm, sondern mit ihm sprach. Zu kurz. Zu spät. Dennoch, er war ihm dankbar wie er ihm seine letzten Stunden schenkte. Auch hier könnte man annehmen, dass die Erzählung dem Zuschauer einiges zumutet, ohne dass es bei ihm, weil besoffen durch Sprache, als Zumutung ankommt. Wie eine solche Liebe begreifen? Soll man gar nicht. Sind die schönsten Dinge nicht immer die, die man nicht begreift? Er hat seinen Vater geliebt, ohne zu begreifen, wie er nach Kriegsende weiterhin Filme machen konnte: “Wenn du weißt, dass du einen Hammer gemacht hast, mit dem man andere totschlagen kann, kannst du nicht mehr ein Hammermacher sein.” Was ist daran so unbegreiflich? Ich finde das normal. Überall machen Menschen dies oder jenes, irgendwas schwätzen vor sich hin. Na und? Selbst Peer Steinbrück redet sich um Kopf und Kragen und findet sich wahrscheinlich noch unwiderstehlich dabei.

Erst im Nachhinein wird klar: der sprachliche Balanceakt gelingt nicht. Sprache löst sich von dem, was sie zum Ausdruck bringen soll. Ein Wort bringt das nächste hervor; ein Satz den nächsten. Ungeplant. Sprache als sich selbst zeichnendes Objekt, das seine Objekte nicht mehr braucht, um lebendig zu sein, im Vollrausch genießbar. Als lebe die Form davon, dass Sprecher und Hörer vergessen, worum es geht, als gehe es ausschließlich darum, nicht zu begreifen, um bei der Stange zu bleiben: einfach da sein sollen, zu was gehören, ohne zu wissen, zu was, kurzum: fühlen. Mehr nicht. Sprache und Sprechen als Musik. Sich als Hörer in irgendwelche Gedanken verlieren, die mit dem Gesprochenen nichts mehr zu tun haben. Eigene Gedanken des Hörers sind ungefährlich für die augenblickliche Wirkung des Erzählten während des Hörens. Während des Zuhörens fischt der Erzähler im Trüben, ungestört. Genauso habe ich mich auf den Film eingelassen: ohne Ehrgeiz alles verstehen zu wollen, was der Redestrom so hergibt, vielleicht nicht mitkriegen wollen, dass sich da einer um Kopf und Kragen redet. Kurzum, ich habe mich fesseln lassen von Thomas Harlan und seinen Film. Es ist ein schöner Film.

In einem viel stärkeren Bann mag Thomas Harlan gefangen gewesen sein, als er als Kind zu Tisch bei Hitler saß, um ihn “als Fakir” zu erleben, der durch Sprache und Geste zu fesseln verstand, als jemand, der Millionen von Menschen um sich versammelte, um sie, als sei das auch für den bloßen Mitläufer die natürlichste Sache der Welt, in eine Bande von brandschatzenden Massenmördern zu verwandeln. “Und natürlich”, so Thomas Harlan, “als Kind gehörte ich zu dieser Bande dazu.” Heute muss man sich nicht mehr einer Bande angehörig fühlen, um de facto Bandenmitglied zu sein.

Franz Witsch (Homepage) 10.7.07 14:35