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Elementarteilchen

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MÄNNERPHANTASIEN Dietmar Kesten 24.2.06 15:32
MÄNNERPHANTASIEN 24/7 Hochschule 26.2.06 12:52
MÄNNERPHANTASIEN 24/7 Dietmar Kesten 26.2.06 14:27

ELEMENTARTEILCHEN

MÄNNERPHANTASIEN

von DIETMAR KESTEN, GELSENKIRCHEN, 24. FEBRUAR 2006.

Seit Sigmund FREUD (1856 - 1939)und seiner bahnbrechenden Entdeckung des Unterbewussten, in dem sich alle Facetten der unterdrückten Sexualität abgelagert haben, hatte sich die moderne Gesellschaft mit der unendlichen Geschichte der Befreiung von diesen Sedimenten beschäftigt. Eine Chronik der Geschichte der Sexualität würde hervorbringen, dass die gesellschaftlichen Formen einen tatsächlich freien Zugang zu ihr eher geschädigt und zerstört haben. Karl MARX hätte diese Entwicklung womöglich heute als „fetischisierende Verzweckung“ bezeichnet; denn Sexualität wird als Ware gehandelt, die kaufbar- und verkaufbar ist und man benötigt nicht Michel HOUELLEBEQ dazu, um die warenförmige Beziehung der Subjekte zu ihr zu konstatieren, die zur Überwindung angestauter und somit verdrängter Sexualität viele Möglichkeiten der Therapie zur Hand haben, aber sich letztlich doch nur einem blinden Sachzwang unterordnen.

Mit der „sexuellen Revolution“ (die im übrigen historisch von dem marxistischen FREUDianer Wilhelm REICH 1897 - 1957 abgekupfert war) seit dem Ende der 60er/Anfang der 70er Jahre, hatte die Diskussion um eine „befreite“ Sexualität und den „befreiten“ Menschen, der durch die repressive Gesellschaft in Unmündigkeit gehalten wurde, und durch sie durch alle Ängste und Nöte seiner Seelenpein geschickt wurde, einen enormen Auftrieb genommen. Und mit der weitgehenden Legalisierung von Pornografie durch die Sexualstrafrechtsreform 1975 wurde die Gesellschaft durch eine steigende Flut von Pornos und durch eine komplette Durchpornografisierung der Medien überrollt und vereinnahmt

Damit wandte man sich erneut, obwohl sie verhindert werden sollte, der Sexualrepression zu, die die frühen Feministinnen verhindern wollten. Der Versuch der sexuellen Revolutionierung des Subjekts, persönliche Traumata abzubauen und individuelle Pathologien zu entwickeln, endete kläglich, weil die psychosozialen Zusammenhänge von der warenförmigen Verblendung und der patriarchalen Abspaltung nicht erkannt wurden. Die Ergebnisse dieser markförmig gewordenen Sexualität gipfelten in die verschiedensten Formen (selbst-)zerstörerischer Sucht, die bar jeder emanzipatorischen Überwindung war und das Subjekt zunehmend isolierte.
Dass selbst inmitten des Luxus von Liebesfreud, die dann auch noch als „Meinungsfreiheit“, „Kunst“ und „Triebabfuhr“ interpretiert wurde, nur Liebesleid realisiert wurde, waren Fakten.

Sexualität zur bloßen Verzweckung und Instrumentalisierung, konnte keine Tabuschranken beseitigen. im Gegenteil: sie konstituierte nicht Erfüllung, die zwar in jedem Therapiehandbuch sinnigerweise als „befreites Denken“ von den Ängsten mit ihr beschrieben wurde, im Grunde jedoch nur auf abstrakte Kategorien und irrationale Abhängigkeiten hinauslief. Selbst Sexualforscher von Rang und Namen stehen heute vor einem Rätsel: wie ist es möglich, dass ehemals „beflügelnde“ Ideen heute mehr hemmend und verhindernd wirken?

Alfred KINSEY oder das Team William MASTERS/Virginia JOHNSON fanden darauf keine Antwort. Ebenso nicht die Polemik heutiger Sexualforscher- und Kritiker, die ihre ab- und/oder Zuneigung zu sexualtherapeutischen Verhaltensregeln und Maßnahmen allenfalls mit theoretischen Überlegungen fragmentieren können. Das Subjekt bleibt gefangen, der Verwertung ausgeliefert, die selbst in jeder Zweierbeziehung an die Türen der Lust und Liebe, der sexuellen Wert- und Konkurrenzsysteme rüttelt.

Dass sich auch das Kino um einen gesellschaftlichen Zusammenhang bemüht, ist Gang und gebe. Das Zu - Kurz Kommen hatte gleich eine Welle von „Lederhosenfilmen“ (Softpornos) und Hardcore hervorgebracht, an denen sich Mann und Frau gleichzeitig „erfreuen“ konnten. Mit Abstand betrachtet, erhielt diese fleischlich - pubertäre Erotik den Glauben daran, Schranken abbauen zu können, obschon diese wie ein Brett vor dem Kopf waren; denn das Herzstück des Systems, in dem diese Vermarktung steht, besteht immer noch in der warenförmigen Subjektivität.

Es konnte nicht verwundern, dass angedachte emanzipatorische Gedanken darüber das Kino nahezu vereinnahmten. Damit waren die medialen Selbsthilfegruppen geboren, die die Sachzwänge der Sexualität in die Form der Eigenlogik hineinbrachten und die lizensierten und selbstinszenierten Pfade der vermeintlich progressiv intellektuellen Klein- und Bürgerlichkeit betraten. Man erinnere sich nur an Filme über westdeutsche Kommunen, wo Freizügigkeit und kunterbunte Beziehungen als kritische Debatte des Freigeistes gefeiert wurden.

Und niemand ahnt, dass die westdeutsche „Kommune 2“ 1968/69 den Film „Elementarteilchen“ vorwegnahm. Die Analytiker waren nahezu davon besessen, sich mit neuen Erfahrungen zu beschäftigen, das bürgerliche Individuum zu „revolutionieren“. Und die „unbewältigte Vergangenheit“ der eigenen Eltern und der Großeltern, in denen man lebte, zu überwinden. In Wahrheit wurde der forcierte Versuch unternommen, sich von der (historischen) verschmelzenden Welt der Eltern abzunabeln, zu „entidentifizieren“, um dann als „befreites Subjekt“ seinen Weg fortzusetzen und sich zu verwirklichen. Diese enthusiastischen Versuche, das bürgerliche Individuum zu überwinden, liegt in der Welt der „Elementarteilchen“ begründet.

Schuldthemen und Schicksalsschläge, desaströse Familienverhältnisse, ein Überangebot an Sexualphantasien, Verlust- und Verlassenheitsängsten sollten das alte Band abhanden gekommenen Libido gänzlicher zerschneiden und die neuen individuellen Glücksansprüche etablieren. Interessant ist, wie Klaus THEWELEIT diese Entwicklung beschrieb. Demnach ging es nicht bei der „sexuellen Befreiung“ um Liebe und Erotik und „schmerzhafte“ Entwicklungsprozesse der Häutung, sondern allein um den Versuch, sich „vom naziverbundenen Elternkörper loszureißen“. Und die durch elterliche Berührung per „Ansteckung“ übertragenen „faschistischen Verbrechen“ aus dem eigenen Leib herauszuwaschen. Diese „psychohistorische Hygiene“ wäre die „individuelle Reinigung“, die die „Elementarteilchen“ versprechen.

In „Elementarteilchen“ (Regie: Oskar ROEHLER) ist dieser Rückgriff unübersehbar. Die elaborierten Zwangsgedanken des Films sind nahezu authentisch oder identisch mit dem Versuch der Neuerschaffung und Selbstverwirklichung des Subjekts, eine (werk-)getreue Reproduktion „hypochondrischer Weltgefühle“, wie Gerd KOENEN in seiner Analyse über die „Kommune 2“ meinte. Vorweggenommen: „Elementarteilchen“ kann auf seine Biologie reduziert werden. Er erzählt viel von Liebe und Leid, vom Wesen des Miteinanders. Und ist doch nur ein plumper Versuch, Lustorgane mittels professioneller Schauspieler freizügig zu drapieren.

Der Film erzählt die Geschichte der Halbbrüder Michael (Christian ULMEN) und Bruno (Moritz BLEIBTREU), die aufgrund fehlender Kommunikation „falscher“ Erziehung und Vernachlässigung durch ihre sexuelle Mutter - Emanze (Nina HOSS)zu erotischen Sinnesgelüsten nicht fähig/unfähig sind, weder produktiv, kreativ oder aktiv sind. Michael ist eher asexuell, wogegen Bruno im masturbatorischen Zwang Erfüllung findet. Die beiden unerfüllten traumatisierten Hauptfiguren wird spätes Glück in Gestalt zweier Frauen geschenkt. Michael verliebt sich in seine ehemalige Schulfreundin Annabelle (Franka POTENTE), lässt sich verführen und heiratet sie später. Bruno flirtet in einem Esoterik Camp ausgiebig mit Christiane (Martina GEDECK), lebt seine Phantasien aus, besucht mit ihr Swinger - Clubs. Bald darauf muss sich Annabelle die Gebärmutter entfernen lassen und Christiana wird querschnittsgelähmt.

Die Ironie der 68er Geschichte trägt seltsame Früchte. Um was geht es ROEHLER
(„Deutschfieber“, 1992, „Die 120 Tage von Bottrop“, 1997, „die Unberührbare“, 1999, „Agnes und seine Brüder“, 2004): um verlorene Seelen, die gerettet werden sollen und doch gescheitert sind, semantische Kindheitskatastrophen mit spielerischer - hedonistischer Radikalität zu beschreiben, oder die Unversöhnlichkeit der inneren Verhärtungen („Panzerungen“ nach REICH) darzustellen? Ist das Kinostück eine Hohelied auf jene feministisch (erregte) Mutter zum höheren Zweck der Selbstverwirklichung, oder handelt er von den Zerstörungsfantasien (siehe FREUD), die uns von Kindesbeinen an begleiten?

Alles Fehlanzeige. Triebgesteuerte Männer und asketisch lebende- das ist doch nur der endgültige Abschied vom krankhaften Bemühen, der Bürgerlichkeit wenigstens noch einen Funken Melodramatik abzugewinnen. Diese Selbstverliebten sind eher das Ergebnis der Marktkonformität unter deren Zwängen die „innere Reinigung“ der Subjekte nur eine „schöne sexuelle Berührung“ (Klaus THEWELEIT) bleibt. Der philosophische Überbau, der „Elementarteilchen“ zu Grunde liegen soll, ist indes so dünn, dass sich überhaupt eine ideologische Deklaration nicht lohnen würde.
Da er nichts anderes ist, als Konfusion, zwanghaft komisch, unverständlich, blass bis gähnend bleibt, mit lächerlichen Figuren, die unterwegs sind (wohin eigentlich?), die in Sinneswandel machen, metaphysische Brocken der Liebes - Blockaden von sich geben und mit alt bekannten Gesichtsausdrücken in Verbrämung machen, des Erstaunt - Seins, verströmen sie unterschwellig eine adolescente Verklemmung.

Dazwischen wird die Liebe als rettender Anker eingeführt, die die Tastversuche der Protagonisten beschreiben will. Die heutigen Emanzipationswaisen werden sich beglückend in den Armen liegen; denn endlich wird das ausgeprägte Gefühl von Leiden kinomategrafisch übersetzt. Die kapitalistische Gesellschaft, die ihre autistischen Kinder entlässt, wird sich allerdings ihr befestigtes Weltanschauungsdach nicht nehmen lassen. Und mit merklicher Entfremdung sieht man sich vor diesem Hintergrund einen Film an, der einen Klimasturz der Wahrnehmung erzeugt. Und gar nicht aus dem Korsett der Sachzwänge herausfällt.

Der Film bietet wenig fürs abgrundtiefe Gedenken über Liebe, Sein, Schein, über Verstrickungen, dem Dilemma, das zwischen Lust und Frust liegt. Kulturkritik ist das alles nicht. Der weit überschätzte Autor HOUELLEBECQ, der seine Helden von
(un-)menschlichen sexuellen Quälereien befreien will, scheitert an seiner eigenen „Behandlung“ dieses Modernismus, den er nicht entkleiden kann, weil menschliche Produktion- und Reproduktion mit blendend warenförmiger Zurichtung sich erst aus diesem Kreislauf herauslösen lassen müssen, um neue oder andere gesellschaftliche Beziehungen zu ermöglichen.

Fazit:

Weitaus überschätzt werden alle: der Autor und der Film nebst Produzent Bernd Eichinger. Die wirklich sezierenden Blicke fehlen. Die Zersplitterung der Geschlechter, die erst mit einer möglichen Überwindung der Marktwirtschaft aufgehoben werden können, wäre anzudenken. Die freie Entfaltung der Persönlichkeit könnte eine sein, die fernab von Markt und Staat angesiedelt ist. Die naive Geschichte vom inneren Glück in fremden Körpern ist indes im Film ein Zurück zu mystischen Lehren und Hippie - Kultur, was Klaus Theweleit so eindrucksvoll beschreibt. Die Wiedergänger und ihre inneren Zeltplätze gehören der Vergangenheit an. Auch ihre Liebes- und Lebensgewohnheiten. Fader kann kein Film sein. Vom „Skandalroman“ ist nicht viel übrig geblieben. Nur eine Szene ist wirklich skandalös. Am Ende sitzen sie am Strand in ihren Liegestühlen, sinnieren über unglückliches Bewusstsein das mit kulturellen Selbstbildern, traumlosen und traumatisierten Codes angereichert ist. Reisefieber ist angesagt. Bei „It’s all over now, Baby Blue“ strebt man schon dem Ausgang entgegen um sein Selbst „neu zu entdecken“.

Dietmar Kesten 24.2.06 15:32